Hereinspaziert! Die Abschaffung der Personen-Vereinzelungsanlage

Hereinspaziert! Die Abschaffung der Personen-Vereinzelungsanlage

Partner:

Wer heute neue Bekanntschaften schließen möchte, geht dafür einfach ins Internet – und nicht mehr, wie früher, in den Supermarkt. Das hat gleich zwei Vorteile: Erstens kann man sich im Netz aussuchen, mit wem man ins Gespräch kommen mag. Und zweitens geschieht das Kennenlernen freiwillig, ohne dass man sich mit anhaltendem Entschuldigungsmurmeln an der Kassenschlange entlang zum Ausgang drängeln muss, wenn das Obst zu teuer, kein Kaffee mehr da war oder man nicht zu den Leuten gehört, die durch lautstarkes Motzen das Öffnen einer weiteren Kassenschlange zu erzwingen versuchen, an die sich sogleich alle übrigen Wartenden umverteilen (vorzugsweise, indem sie ihren Konkurrenten den Einkaufswagen in die Hacken rammen).

Ohne Drängeln kam noch vor einigen Jahren keiner mehr aus dem Markt raus. Die geschlossenen Kassen waren durch Sperren verriegelt und der Weg zurück durch die Eingangstür nicht nur mit roten Verbotsschildern untersagt, sondern auch durch silbern schimmernde „Personenvereinzelungsanlagen“ gesichert.

Oder wie normale Menschen sagen: Drehkreuz.

ANZEIGE

Die Botschaft der Märkte lautete: Wenn du schon da bist, kaufst du gefälligst auch was ein! Und wenn nicht, gestalten wir dir den Weg nach draußen so unangenehm wie möglich.

Diese Zeiten sind vorbei, zumindest bei großen Ketten wie Rewe, Edeka und Tengelmann, die schon länger an der Abschaffung der Drehkreuze arbeiten. Das hat nicht nur den Vorteil, dass es auch Kunden mit Kinderwagen oder Rollstuhl problemlos möglich ist, in den Markt zu gelangen ohne vorher eine Sondergenehmigung beim Personal zu beantragen. Sondern soll auch Vertrauen signalisieren: Jeder kann rein- und rauslaufen wie er möchte und hat dabei nicht mehr das Gefühl, als potenzieller Dieb behandelt zu werden, der es wagt, entgegen der vorgeschriebenen Richtung nach draußen zu wollen – womöglich auch noch zur Konkurrenz.

Bei der Renovierung älterer und der Eröffnung neuer Märkte verzichtet zum Beispiel Kaiser’s Tengelmann komplett auf Zugangssperren. Stattdessen werden die Kunden sofort in die Abteilung mit Obst, Gemüse und Salat geleitet, so wie hier in einem kürzlich eröffneten Berliner Kaiser’s-Markt:

Etwas besser erkennt man die Struktur im Bauzustand wenige Wochen zuvor (links die offene Obst- und Gemüseabteilung mit freiem Durchgang zu den Kassen rechts):

„Nach der Demontage der Anlagen in Bestandobjekten sind keine signifikanten Veränderungen zu erkennen“, erklärt Raimund Luig, Geschäftsführer von Kaiser’s Tengelmann, in schönstem Handelsdeutsch, dass die Diebstahlquote wegen der Änderungen nicht besonders gestiegen sei. „Der offene Eingangsbereich ermöglicht den Kunden einen ungehinderten Eintritt in unsere Filialen. Darüber hinaus können wir den gesamten Eingangsbereich effektiver nutzen.“ Das heißt übersetzt: Es ist jetzt einfach mehr Platz da.

Für mehr Übersichtlichkeit im Markt sorgt das allerdings nicht, weil man zwar nicht mehr vom Drehkreuz abgebremst wird, dafür aber zwischen den vielen Regalinseln entlangsteuert, die im ersten Drittel der Kaiser’s-Märkte wie kleine Flöße umherschwimmen. Und die man mit dem Einkaufswagen mehrmals umkreisen muss, bis man endlich die frischen Pilze oder den Radicchio gefunden hat. Danach kennt man zwar das komplette Obst- und Gemüse-Angebot, hat aber womöglich auch einen kleinen Drehwurm.

Während die klassischen Supermärkte ihre Eingänge öffnen, finden es vor allem die Discounter weiterhin praktisch, ihr Kunden zu „vereinzeln“. Das passiert jedoch seltener durch Drehkreuze, sondern mit Schleusentoren, die per Sensor erkennen, wenn sie sich öffnen müssen – natürlich nur als Einbahnstraße.

(Und Lidl hält es zum Beispiel für eine gute Idee, die Kundschaft in manchen Märkten erst durch eine Sensorschleuse und dann noch durch ein Drehkreuz zu lotsen, obwohl man in viele Märkte wegen der selbstöffnenden Türen sowieso nur in eine Richtung reinkommt, was ein bisschen das Gefühl vermittelt, als wolle man jemanden im Hochsicherheitstrakt einer Vollzugsanstalt besuchen.)

Womöglich steht den Schleusen jetzt sogar eine Renaissance bevor: nicht im Eingangsbereich, sondern am anderen Marktende, für Kunden, die bereits bezahlt haben.

Schuld daran sind die SB-Kassen (über die an dieser Stelle ja kürzlich schon berichtet wurde), an denen die Kunden sich selbst abkassieren. Die werden nicht nur im Lebensmittelhandel getestet, auch der Möbelriese Ikea hat entsprechende Systeme in seinen deutschen Filialen installiert, erstmals vor zwei Jahren. Heute gibt es durchschnittlich 24 SB-Kassen (!) pro Haus, mit der Einschränkung, dass dort momentan nur bis zu 15 Artikel gekauft werden können. Weil Sie sonst genauso lange dafür brauchen, die Küche zu bezahlen, wie es dauert, sie aufzubauen.

Spannend ist, dass Ikea gerade sämtliche SB-Kassen nachgerüstet hat: mit einem Ampelsystem, das den Mitarbeitern auch aus der Ferne signalisiert, was gerade am jeweiligen Terminal passiert. Wenn ein Kunde einen Artikel scannt, leuchtet das grüne Licht kurz auf. Rot bedeutet, dass der Kunde falsch gescannt hat oder Hilfe braucht. Das orangefarbene Licht in der Mitte leuchtet über die gesamte Dauer eines Kassiervorgangs – und zeigt somit an, wenn ein Kunde bloß so tut als würde er bezahlen und vorzeitig verschwinden möchte.

Zusätzlich zur Ampel wurden an den Kassen Monitore angebracht, auf denen man sich selbst im Bild der Überwachungskamera sieht, um zu signalisieren, dass man beobachtet wird.

Bei Ikea möchte man das selbstverständlich nicht als Überwachungsmaßnahme verstanden wissen, sondern als „zusätzliche Möglichkeit“, bei potenziellen Möbelneppern „das Nachdenken in Gang zu setzen“, wie es Ikea-Sprecher Kai Hartmann formuliert. (Also: „Möbelnepper“ sagt er natürlich nicht.)

In ausländischen Filialen ist – und damit sind wir wieder beim eigentlichen Thema – außerdem eine dritte Sicherung erprobt, nämlich die Installation von Schleusen hinter den SB-Kassen, die sich erst öffnen, wenn ein Kunde nach dem Bezahlen seinen Bon noch einmal scannt. Zum Wohlfülimage, um das sich Ikea bei seinen Kunden sonst bemüht, indem es sie konsequent duzt, mit günstigem Frühstück versorgt und die Kinderbetreuung übernimmt, passt dieses Einmauern an der Kasse natürlich nicht. Deshalb bemüht sich Hartmann auch eiligst, Entwarnung zu geben: „In Deutschland gibt es diese Pläne konkret nicht. Dafür sehen wir keine Notwendigkeit.“

Vom Ikea-Manager Holger Apel, der die Technikinfrastruktur der Kassen verantwortet, erfuhr die „Lebensmittelzeitung“ Ende Februar allerdings noch das Gegenteil: „Erste Tests [mit Schleusentoren] sind nach seinen Angaben in Planung.“

Wenn Sie beim nächsten Kauf eines Sperrholzreagls an der SB-Kasse besonders ehrlich in die Überwachungskamera lächeln, lässt sich das vielleicht noch verhindern.

Fotos: Supermarktblog

Kommentieren

Datenschutzhinweis: Mit der Nutzung dieses Formulars erklären Sie sich mit der Speicherung und Verarbeitung Ihrer Daten durch diese Website einverstanden. Eine Freischaltung erfolgt nur unter Angabe einer validen E-Mail-Adresse (die nicht veröffentlicht wird). Mehr Informationen.

1 Kommentar
  • Markant ist bei LIDL auch die automatische Ansage beim Eingang „dies ist kein Ausgang“ o.ä., falls man ihn dazu „mißbrauchen“ will und AFAIR bei der sog. Sensorschleuse.
    Ein bestehender LIDL in Berlin vor kurzem mit Brötchenknast umgebaut hatte überraschenderweise gar keine Sensorschleuse oder Drehkreuz mehr und nur noch die doppelten automatischen Glasschiebetüren als „Windfang“.
    Nervig bei LIDL auch immer, wenn man von draußen direkt hinter die Kassen will, z.B. weil man etwas umtausche will und es eben nicht erst durch den Laden tragen will. Die meisten ALDIs haben das mit extra Abzweig zwischen Eingangsttür und Drehkreuz direkt zur Kasse besser gelöst, aber das nimmt natürlich Platz weg.

Blog-Unterstützer:innen können sich über Steady einloggen, um Support-Hinweise und Werbung im Text auszublenden:

Archiv