Wie Lidl Express in Berlin für einen Tag doch noch zum Erfolg wurde

Wie Lidl Express in Berlin für einen Tag doch noch zum Erfolg wurde

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In Berlin-Schöneberg hätte Anfang des Jahres eigentlich Lidls neues Abholkonzept „Express“ starten sollen. Daraus wird bekanntlich nix mehr. Stattdessen lud der Discounter dort jetzt zum „Sonderverkauf“.

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Zur Eröffnung neuer Ladenkonzepte kommen Handelsmanager in grauen Anzügen. Zur Beerdigung nicht mehr benötigter Zukunftsvisionen kommt stattdessen Security.

„Das ist ja wie nach der Wende“, sagt ein älterer Herr im Vorbeigehen, nur dass die „Wende“ diesmal an einer Lidl-Filiale in Berlin-Schöneberg passiert. Dort hat sich am Samstagmorgen kurz nach 9 Uhr eine mittelgroße Menschenmenge vor der Feuerschutztür versammelt, an der ein kühler Sicherheitsbeauftragter mit einer aufgestellten Metallrampe die wartenden Menschen blockiert, damit nicht alle auf einmal reinstürzen. Leute schieben, Mütter schreien, Kinder weinen – und das alles, um vor dem Frühstück einen der begehrten Restposten zu ergattern, die Lidl in die kleine Flachdachfiliale gekippt hat.

Ursprünglich hätte dort schon vor Wochen Lidls neues Schnelleinkaufkonzept „Express“ starten sollen, eine Kombination aus Abholmarkt und Frische-Shop – bis der Chef der Schwarz-Gruppe bei voller Fahrt die Handbremse zog (siehe Supermarktblog). Also blieben die Folien an den Fenstern hängen.

Am vergangenen Wochenende eröffnete der Zukunftsladen trotzdem, wenn auch nur zum einmaligen „Sonderverkauf“: Deluxe-Fertigsoßen, Damen-Strumpfhosen und Dosen-Ravioli zum halben Preis.

„Mit unseren Produkten und Services wollen wir mehr Freude in das Leben unserer Kunden bringen“,

ließ sich der Lidl-Marketing-Chef kürzlich zum Start der neuen Werbekampagne zitieren, in der Menschen wie Sie und ich mit Lidl-Produkten fröhlich und satt durch den Alltag wirbeln. Aber die Schnäppchengier, mit der die Kundschaft in Schöneberg bereit ist, sich gegenseitig in den schmalen Eingang zu rammen, passt noch ein bisschen besser zur aktuellen Planung für Deutschlands zweitgrößte Discountkette. Wer sich in der Schnäppchenschlacht durchsetzen will, braucht kein Augenmaß. Sondern rohe Gewalt.

Draußen gibt es erbitterte Diskussionen darüber, an welcher Seite des Mobs sich die Leute, die später dazu gekommen sind, gefälligst anstellen sollen, und ein Mann kündigt an, die unhaltbaren Zustände fotografisch zu dokumentieren, um sich damit an „die Lidl-Zentrale“ zu wenden. Ein Sonderverkauf-erfahrener Zeitgenosse winkt ab: „Da hab ich schon Schlimmeres gesehen.“ Drinnen zischen Kunden jeden an, der sich ihrer in Gittertischen versenkten Respostensammlung nähert: „Das gehört uns!“

Oder wie der Lidl-Marketing-Chef sagen würde:

„Unsere Bildwelten zeigen individuelle und authentische Lebensmomente echter Kunden, wir haben bewusst auf Schauspieler und inszenierte Szenen verzichtet.“

Adieu, Aufbackattraktionen!

Dass an dieser Stelle noch vor wenigen Wochen ein nagelneu eingerichteter Laden vor der Eröffnung war, ahnt vermutlich niemand. Die „Lebensmittel Zeitung“ hatte im vergangenen Jahr (vor der Fertigstellung) einen Blick hineinwerfen können und ein Foto veröffentlicht, auf dem ein üppiger Brötchenknast und Schnellkassen zu sehen waren; durch Schlitze in den folienverhängten Fenstern ließ sich nachher auch die Frischeabteilung am Eingang erahnen, an den Wänden standen moderne Kühlmöbel für Snacks und Wein.

Nichts davon ist übrig geblieben. Aus den frisch gestrichenen Wänden ragen nur noch die roten Dübel, die modernen Lichtspots an der Decke durften vorerst hängen bleiben. Von den geplanten Aufbackattraktionen kündet jedoch nur noch der halbrunde Deckenvorsprung, unter dem der Brötchenknast in die viel zu hellen Fliesen gedübelt war.

Der dahinter vorgesehene Direktzugang zu den Aufbackteiglingen musste während seiner kurzen Existenz vermutlich nie geöffnet werden.

Die Verkaufsfläche der geplanten Express-Filiale wäre erstaunlich überschaubar ausgefallen: Für viel mehr als die genannten Frische- und Snack-Sortimente sowie ein paar Schnellkassen hätte der Platz kaum ausgereicht, für Einkaufswagen schon gar nicht. Das war Teil des – vom Discounter selbst bloß angedeuteten – Konzepts: Ein Großteil der übrigen Produkte des täglichen Bedarfs hätten Lidl-Express-Kunden online geordert und im Markt nur noch abgeholt.

Entweder im linken Drittel, das abgetrennt von der Verkaufsfläche, aber mit Durchreiche über eine Lagerfläche und einen großen Kühlraum verfügt hätte.

Oder in eine Art Halle mit hohen Decken, wo auch genügend Platz gewesen wäre, um die Online-Einkäufe der Kunden in einer Art Mini-Lager zu kommissionieren. (Zum Sonderverkauf war der Zugang mit einem rollbaren Kühlbehälter verbarrikadiert.)

Die späte Erkenntnis der Schwarz-Chefetage, Express noch vor dem Start abzuwickeln, dürfte schon aus Rückbaugründen nicht ganz günstig gewesen sein.

Die an den Kassentischen reüssierenden Schnäppchensieger braucht das freilich nicht zu kümmern: Eine junge Frau muss ihren Einkauf in der großen Permanenttragetasche über den Asphalt ziehen, weil der Inhalt zu schwer zum Tragen ist. Ein Paar, das seinen Samstagmorgen gemeinsam im Drängelklumpen vor der Feuerschutztür verbracht hat, ist sichtlich zufrieden mit seiner Beute: ein Glas Uccle-Benz-Glibber, Billig-Tupperware, Wurst im Glas – da hat sich die Mühe doch gelohnt! Und eine Gruppe junger Männer konnte sich noch rechtzeitig mit günstiger Gartentechnik eindecken: Endlich Mehrfach-Elektroheckenscheren-Besitzer!

Was passiert jetzt mit dem Laden, in dem Lidl eines der interessantesten Experimente hätte wagen können, die der deutsche Lebensmittelhandel zu bieten hat? „Der wird abgerissen“, informiert ein unhöflicher Sortierer in Arbeitsuniform.

Abriss scheint ohnehin eine der Kernkompetenzen zusein, mit denen Lidl das Jahr 2017 momentan zu bestreiten gedenkt.

Wäre ja vielleicht auch was für die neue Marketing-Kampagne:

Fotos + [M]: Supermarktblog"


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6 Kommentare
  • Das hätte nun wirklich echt was werden können ….
    Und vielleicht hätte es sogar ausgereicht Lidl aus dieser Discounter-Ecke heraus zu manövrieren , in Richtung Supermarkt.
    Aber es ist ja offensichtlich nicht gewollt in diesem Land ….
    Solang da jetzt noch weiterhin Leute zum einkaufen hinrennen, wird sich da wohl auch nicht so schnell etwas ändern ….

  • Das sich entsprechende Konzepte erfolgreich umsetzen lassen zeigt u.a. REWE mit seinem To Go Konzept. Auch WholeFoods in the UK funktioniert in der Fläche. Hier hat der Discounter Lidl sich auf seine vermeintliche Kernkompetenz >>Preis<< zurückgezogen und greift damit nicht auf weiteres Potential zurück. Eine nicht genutzte Chance, schade ! So wäre weiter Bewegung in EZH Landschaft gekommen. Lidl hat sich in den letzten Jahren doch prächtig entwickelt, warum nicht neues wagen !?
    Ich hätte gerne an der Konzeptentwicklung mitgewirkt , sicherlich ein spannender Prozeß.

    Es grüßt M.Eßlage

  • Ich finde es unfassbar, wie Lidl sich hier blamiert, vor allem im Hinblick auf die Vollbremsung so kurz vor dem Start des schon bekannt gewordenen Konzepts. Aus bloßer Sturheit in der Chefetage wurde das Konzept im fertig gebauten und eingerichteten Markt nicht einmal kurzzeitig ausprobiert. Der Abriss der (für sicher nicht wenig Geld) umgebauten Test-Filiale entspricht vor allem nicht dem Discount-Prinzip der Sparsamkeit, Herr Gehrig!

  • Im Lidl in Halle (Ecke Trothaer-/Köthener-Str/Magdeburger Chaussee) wurden nach ca. 1 Jahr in den letzten Zeit 2 Kühltruheninseln a 3 Truhen durch Giterramschwagen ersetzt. Diese waren im Zuge des Umbaus installiert worden.
    Ob die Kühlschränke über der Kühltruhenzeile schon vorher da waren, bin ich mir nicht sicher.

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