Bye-bye, Bio: Wie sich Temma auf den Kopf stellen muss, um zu überleben

Bye-bye, Bio: Wie sich Temma auf den Kopf stellen muss, um zu überleben

Inhalt:

Mit gerade einmal neun Filialen hat Temma den Anschluss an die Konkurrenz in der Bio-Nische verpasst. Doch die Voraussetzungen für einen Neustart als Innovationskonzept wären hervorragend.

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„Freunde, Tapas, Tomaten“, verspricht die zu Rewe gehörende Biomarktkette Temma auf ihrem aktuellen Monatsprospekt mit gut gelaunter Tischgesellschaft im Hintergrund. Im Editorial fragt Temma-Leiterin Christiane Speck „Was für Titelthemen sind das denn?“ und empfiehlt Lesern den Abschluss einer Kuhpatenschaft. Anschließend ist 14 Seiten Platz für hübsch fotografierte Produkte, Ratgeber und Rezeptideen, die unsortiert über das Faltblättchen verteilt sind. Über „Bio-Pizzateig Hell“ (Aktion: 1,70 €), „Bio-Pizzatomaten“ (dauerhaft günstig: 0,89 €), „Bio-Tortillawraps“ (Aktion: 1,60 €) und „Rote Bio-Kidneybohnen“ (Aktion: 1,20 €) steht in Großbuchstaben nochmal:

„FREUNDE“

Falls der Rewe-Ableger demnächst in die Rätselheftproduktion einsteigen wollte, wäre das eine ideale Erstausgabe.

Als Mischung aus Werbeprospekt und Kundenmagazin ist das Druckerzeugnis aber genauso unentschieden wie sein Absender.

Dabei war dessen Grundidee toll: 2009 startete Temma im Kölner Stadtteil Bayenthal als entschleunigter Nachbarschafts-Bioladen mit freundlicher Beratung. Das Konzept war frisch, die Läden sahen gleichzeitig modern und gemütlich aus (siehe Supermarktblog) – aber auf Dauer hat das nicht gereicht. Seit zweieinhalb Jahren ist kein neuer Markt mehr eröffnet worden, „weil das Modell noch nicht zu 100 Prozent wirtschaftlich“ sei, erklärte der neue Rewe-Vorstandsvorsitzende Lionel Souque auf der Bilanzpressekonferenz im April (siehe Supermarktblog). Anders formuliert: Es kommen zu wenig Kunden in die Läden. Eine „Weiterentwicklung“ des Konzepts sei geplant. Dabei wäre mindestens ein radikaler Strategiewechsel nötig, wenn es Temma in Zukunft noch geben soll.

Superbequem und superleer

Viele Probleme der Minikette sind genauso hausgemacht wie die Gerichte, zu denen appetitanregende Kochanleitungen im Monatsmagazin erscheinen.

Eines der größten ist, dass Temma offensichtlich auch acht Jahre nach dem Start noch Mühe hat, von (neuen) Kunden als Bioladen wahrgenommen zu werden. In den Märkten hängt deshalb gleich mehrfach die Erinnerung:

„Bei uns ist alles Bio.“

Und selbst in der Kölner Zentrale scheint man sich nicht so recht entscheiden zu können, was Temma eigentlich sein soll. Außen an den Märkten hängt statt der neuen Selbstbezeichnung „Bio Genuss-Markt“ weiterhin das alte Wortspielmotto: „Alles isst natürlich“. Und die Zusammenfassung der eigenen Stärken auf dem Monatsprospekt lässt einen ratlos zurück:

„100% Bio, 70% vegetarisch, 50% vegan, vieles heimatlich – ursprünglich, genüsslich, natürlich, persönlich“


Screenshot: Temma/Smb

Wenn Supermärkte Persönlichkeitsstörungen haben könnten: Genau so würde das aussehen.

Keine Frage: Die Metallregalinseln, auf denen die Produkte im Laden präsentiert werden, glänzen weiterhin mit supermarktuntypischer Schlichtheit. Die schicken Bodenfliesen in der Weinabteilung sehen toll aus, die Lederhocker an der Deli-Theke sind superbequem.

Temma hat schon Wert auf Atmosphäre beim Einkauf gelegt, als gewöhnliche Supermärkte noch im nüchternen Regalchaos versanken. Am Ende hilft aber auch das ansprechendste Design wenig, wenn der Einkauf zur Suchodyssee wird, weil klare Sortimentshinweise fehlen.

(Oder würden Sie in dieser Wohlfühlumgebung auf Anhieb den Reis finden?)

Dazu kommt, dass viele Bestandteile des Konzepts, die 2009 noch als Besonderheit galten, längst von den klassischen Handelsformaten assimiliert wurden. Auch Rewes Supermärkte nutzen die Kombination aus Bäckertheke und Bistro zur Aufwertung (und nennen das seit kurzem auch genauso wie Temma: Deli). Discounter wie Penny positionieren sich in Städten als „Nachbarschaftsmärkte“ mit Snack-Auswahl und langen Öffnungszeiten.

Darauf hat Temma nicht reagiert. Und glaubt immer noch, ganz besonders Bio zu sein.

Auf der Tafel mit den Lieferanten aus der Region steht stolz die Frage: „Biologisch und regional – wer macht denn sowas?“ Naja: zum Beispiel die Biomarkt-Konkurrenz um die Ecke. Und die ist längst gewaltig.

Mit einer Expansion des Konzepts in weitere Städte hat sich Rewe so lange Zeit gelassen hat, bis klar war, dass die Kunden dort gar keine neue Kette mehr brauchen. Und während Temma mit einzelnen Markteröffnungen, unter anderem in der hessischen Reichenperipherie Bad Homburg, hart an der Aufrechterhaltung der eigenen Unsichtbarkeit arbeitete, besetzten die beiden Hauptkonkurrenten denn’s Biomarkt und Alnatura im Laufe der Zeit immer mehr attraktive Stadtlagen.

Die anderen sind davongezogen

Im Juni 2012 kamen die beiden großen Ketten zusammen auf 160 Filialen in Deutschland (89 denn’s-Märkte, 71 Alnatura-Läden). Fünf Jahre später hat sich die Anzahl – durch Neueröffnungen und Übernahmen – auf insgesamt 341 mehr als verdoppelt (118 Alnatura-Märkte, denn’s nennt etwas ungenau „über 250“ Märkte im deutschsprachigen Raum – 27 davon in Österreich).

In den Metropolregionen Berlin und Nordrhein-Westfalen muss sich die Rewe-Tochter außerdem gegen starke lokale Wettbewerber behaupten. Bio Company ist mit 51 Läden in Berlin und Potsdam vertreten, von Münster aus steuert SuperBioMarkt 26 Filialen – in beiden Fällen mit einer großen Portion glaubwürdiger Lokalkompetenz.

Temma kommt bundesweit auf neun Filialen.

Und wem es im Schweigekloster zu hektisch zugeht, der kann werktags in der Berliner Filiale im Keller eines Einkaufszentrums an der Friedrichstraße Besorgungen tätigen, um mal ganz für sich zu sein.

Anders gesagt: Die Zeit, in der Temma zu einem relevanten Herausforderer in der Bio-Nische hätte werde können, ist vorbei.

Es ergibt für Rewe aus strategischer Sicht auch gar keinen Sinn mehr. Die Umsätze mit Bio-Lebensmitteln steigen zwar stetig an. Zahlen des Arbeitskreises Biomarkt (auf Basis von GfK, Nielsen, bioVista, Kommunikationsberatung Klaus Braun; publiziert vom BÖLW) haben die Deutschen im vergangenen Jahr 9,48 Milliarden Euro für Bio-Lebensmittel ausgegeben – fast 10 Prozent mehr als im Vorjahr. Einen Großteil dieser Umsätze machen allerdings klassische Supermärkte und Discounter, wo die meisten Kunden Bio-Produkte kaufen. In nur zwei Jahren stieg der Marktanteil des traditionellen Lebensmittelhandels von 54 auf 58 Prozent; der des Naturkostfachhandels (inkl. Bio-Supermärkten) sank von 32 auf 30 Prozent.

Von der Kette zur Insel?

Das heißt, Rewe kriegt die Bio-Käufer auch so – ohne dass dafür eine separate Biokette am Markt etabliert werden müsste. (Mit Vierlinden ist das vor zwölf Jahren schon mal gründlich schief gelaufen.)

Temma zur Supermarktinsel umzufunktionieren, wie es Rewe Medienberichten zufolge an zwei Center-Standorten plant, mag auf den ersten Blick plausibel scheinen. Aber wirklich nur, wenn man nicht sehr viel genauer hinschauen mag.

Viele Kunden haben sich daran gewöhnt, Bio-Produkte im Regal direkt neben den konventionellen zu finden – die Verbannung auf die Sonderfläche könnte zu Irritationen führen. Oder sogar dazu, dass weniger Bio gekauft wird. Erst recht, wenn darüber eine (den meisten Kunden völlig unbekannte) Marke steht, die schon jetzt Probleme hat, Bio-Assoziationen zu wecken.

So schade das ist: In der jetzigen Form ist Temma für Rewe überflüssig. Es sei denn, der Handelskonzern traut sich, aus dem Bio- ein sehr viel breiter definierbares Innovationskonzept zu machen und die Läden für weitere Experimente zu öffnen.

Temma als Trendspotter

Neue Ernährungstrends haben der Bio-Bewegung in den vergangenen Jahren ohnehin den Rang abgelaufen: Kunden erwarten im Supermarkt ganz selbstverständlich eine Auswahl an veganen Lebensmitteln, kaufen „Superfoods“ und legen Wert auf Produkte lokaler Erzeuger und kleiner Manufakturen. Bio ist da manchmal zweitrangig. Kein Wunder, dass Rewe seinem neuen Supermarktkonzept, das derzeit u.a. in Berlin und München ausprobiert wird, entsprechende Schwerpunkte setzt (siehe Supermarktblog):

Temma könnte noch einen Schritt weitergehen – und frühzeitig Trends für Rewe identifizieren, bevor sie im Mainstream angekommen sind. Über experimentelle Produktschwerpunkte, Kooperationen mit aufstrebenden Food-Start-ups, gastronomische Wagnisse, völlig neue Einkaufskonzepte.

Und nicht bloß, indem man seinen Namen auf die Etiketten für eine neue Bolognesesauce, die hundertste Erdbeermarmelade und noch ein Olivenöl druckt, wie Temma das gerade mit seiner neu gestarteten Eigenmarke probiert („keine komplexen Rezepturen oder starke verarbeitete Rohstoffe“ von „Lieferanten, die wir persönlich kennen“ – aber nicht vorne aufs Etikett drucken).

Sondern im Zweifel auch mal: mit einem Kopfstand.

In Zug hat der Schweizer Handelskonzern Coop gerade aus seiner vor zwei vier Jahren eingeführten Veggie-Eigenmarke „Karma“ einen kompletten Laden gemacht (Konzeptübersicht als pdf). In dem gibt es auf überschaubaren 140 Quadratmetern ausschließlich vegetarische und vegane Lebensmittel zu kaufen, das aber in riesiger Auswahl. Gleichzeitig kann Coop ausprobieren, welche neuen Karma-Produkte besonders gut ankommen (und seine Schlüsse für die konventionellen Märkte daraus ziehen).


Foto: Coop

Ob der Markt ein Hit wird, kann Coop nicht wissen. Die Schweizer probieren’s einfach aus.

Rewe hat es vor Jahren genauso gemacht. Jetzt ist es an der Zeit, sich von der ursprünglichen Idee zu verabschieden und der im Unternehmen vorhandenen Ausprobierkompetenz einen permanenten Experimentierstatus zuzugestehen. Ohne den Druck, ständig die eigene Wirtschaftlichkeit unter Beweis stellen zu müssen. Dafür aber mit der Freiheit, Dinge auszuprobieren, die mittelfristig allen Handelsformaten der Gruppe zu Gute kommen und ihnen im Wettbewerb mit der Konkurrenz einen Vorsprung verschaffen.

(Auch wenn Bad Homburg dafür vielleicht nicht der richtige Standort wäre.)

Als Biomarktkette hat Temma nicht funktioniert. Aber die Voraussetzungen, um aus dem flotten Tantchen ein Live-Labor für Einkaufstrends von morgen zu machen, sind hervorragend.

Fotos: Supermarktblog"

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3 Kommentare
  • Also für diese Idee solltest Du eigentlich eine ordentliche Stange Geld von Rewe bekommen. Klingt absolut plausibel und vielversprechend.

    • Ja, aber da müßte Frau Speck ja zugeben, daß ihre Strategie („neue Erdbeermarmelade“) falsch wäre bzw. sie zu phantasielos, und insofern wird es für sie einfacher sein, solche „hergelaufenen Online-Journalisten“ als praxisferne Idealisten (das ist die freundliche Formulierung) zu bezeichnen… Oder wir haben ganz großes Glück und sie hat schon ähnliches vorgeschlagen und freut sich jetzt über Rückendeckung 🙂

    • Ich würde mal sehr stark annehmen, dass das Ausmaß der möglichen Fantasie (und vor allem deren Umsetzung) sehr von den zur Verfügung stehenden finanziellen Ressourcen innerhalb der Rewe-Gruppe abhängt. Und die dürften sich, was neue Modelle außerhalb des Stammgeschäfts angehen, derzeit stark auf Online konzentrieren. (Was gleichzeitig schlau und falsch ist.)

      Das heißt: Temma macht vermutlich gerade, was halt möglich ist. Für einen nachhaltigen Erfolg müsste (nach meiner subjektiven Einschätzung) mehr möglich sein.

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