Piggly Wiggly und der Siegeszug des Selbstbediensupermarkts

Piggly Wiggly und der Siegeszug des Selbstbediensupermarkts

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Im September 1916 eröffnete in Memphis, Tennessee, ein Lebensmittelladen, der ganz ohne Bedienung auskam. Die Konkurrenz spottete. Aber der Markt und die Idee dahinter wurden ein riesiger Erfolg.

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Im Dezember 2016 kündigt ein großer amerikanischer Handelskonzern an, den ersten Supermarkt ohne Kasse eröffnen zu wollen (siehe Supermarktblog). Und „Horizont“ kennt sofort „Drei Gründe“, warum das „kein Erfolg wird“: Weil es Kunden beim Einkaufen nicht nur auf Schnelligkeit ankomme, sondern auch auf Beratung; weil Supermärkte, bei denen man vermutlich erst Mitglied werden muss, gegen unsere Gewohnheit sind; weil die Technik im Laden „nicht nur gut, sondern faktisch fast fehlerfrei arbeiten“ müsse und sonst zu einem „irreparablen Imageschaden“ führe.

Das klingt alles einleuchtend. Und rührend naiv, wenn man weiß, was sich Clarence Saunders vor ziemlich genau 100 Jahren anhören musste: etwas, das aus damaliger Sicht ziemlich ähnlich geklungen haben muss.

Im September 1916 kündigte der erfahrene Händler (Foto rechts) an, den ersten Lebensmittelladen ohne Bedienung eröffnen zu wollen. Und die Konkurrenz kannte sofort massig Gründe, warum das nicht funktionieren könne: Weil die Kunden niemals akzeptieren würden, sich ihre Sachen selbst im Regal zu suchen; weil sie sich nicht dazu zwingen ließen, ihren Einkauf sofort zu bezahlen; weil es nicht mal das Angebot gab, die Sachen per Esel-Express nachhause gebracht zu kriegen.

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Tja.

Am 11. September 1916 öffnete Saunders die Türen seines ersten „Piggly Wiggly“-Ladens in Memphis, Tennessee, und landete damit sofort einen riesigen Erfolg.

Foto: The first self service, 1916: Clarence Saunders/Library of Congress, Public Domain

So riesig, dass wenige Wochen darauf schon der nächste folgte und das Unternehmen mit dem absichtlich kurios gewählten Namen fünf Jahre später bereits die drittgrößte Supermarktkette der USA war: mit 615 Läden in rund 200 Städten. Vor allem etablierte sich aber das Konzept des Selbstbediensupermarkts – kurz zuvor in der Branche noch verspottet – als weltweiter Standard.


Foto: Piggly Wiggly headquarters on S Front, Memphis TN, circa 1923: Memphis Public Library and Information Center, Public Domain

Dabei war’s gar nicht so, dass es damals kein funktionierendes System für den Lebensmitteleinkauf gegeben hätte. Ganz im Gegenteil: Die meisten Kunden kamen sogar täglich in die Läden, ließen sich die benötigten Produkte einpacken und hielten dabei ein Schwätzchen mit dem Verkäufer.

Saunders allerdings konzentrierte sich auf die Schwachstellen:

  • Weil die Kühlung von Lebensmitteln zuhause vor der Erfindung des Kühlschranks sehr aufwändig war, kauften die Kunden frische Ware stattdessen täglich ein, mussten dafür aber auch ziemlich viel Zeit opfern.
  • Für dasselbe Produkt zahlten sie im Zweifel unterschiedliche Beträge, weil es unüblich war, Preise direkt an den Waren zu kennzeichnen (genau das, was uns heute auf die Palme bringt, wenn wir über elektronische Preisschilder diskutieren).
  • Um ältere Ware loszuwerden, mischten viele Verkäufer sie einfach der frischen Ware unter.

Saunders versprach Preiskennzeichnungen direkt am Regal; die Kunden konnten sich ihre Ware selbst aussuchen. In Werbeanzeigen lockte er mit der Zeitersparnis:

„This new method will make it possible for you to get by the checker’s desk much quicker and without any ‚jamming‘ of folks behind you.“

Vor allem lieferte Saunders potenziellen Kunden aber ein zusätzliches Argument, um sie dazu zu kriegen, ihre alten Einkaufsgewohnheiten über Bord zu werfen: niedrigere Preise.

Das Drehkreuz zur Revolution

Diese Idee war genauso wenig neu wie das SB-Prinzip, das sich in Restaurants und Cafeterien längst durchgesetzt hatte. In Memphis war bereits Duke Bowers in seinem „penny store“ damit erfolgreich gewesen, den die Leute so nannten, weil sie dort fast jedes Produkt ein oder zwei Penny günstiger bekamen (und in Süßwaren oder Käse investieren konnten). Bowles verzichtete darauf, Einkäufe anschreiben zu lassen; dadurch benötigte er weniger Personal für Buchhaltung und die Eintreibung von Schulden. Vor allem aber konnte er einen Teil der Ersparnis an seine Kunden weitergeben. Im wahrsten Sinne des Wortes einen Discount.

Saunders entwickelte dieses Prinzip bei Piggly Wiggly weiter, machte nicht nur Barzahlung verpflichtend, sondern designte den ganzen Laden neu, um die Betriebskosten senken zu können. Und meldete dieses Design 1917 sogar als Patent an, um nicht kopiert zu werden. (Das hat, wie wir heute wissen, nicht so gut funktioniert.)


Abb.: United States Patent and Trademark Office, Public Domain

Für damalige Verhältnisse war der gerade einmal gut 100 Quadratmeter große Laden eine Revolution. Kunden liefen durch ein hölzernes Tor (das später durch ein hölzernes Drehkreuz ersetzt wurde) in einen großen Verkaufsraum, wo Waren in Regale einsortiert waren, die einen Weg zur gegenüber liegenden Ladenseite vorgaben. Dort wurde der Einkauf an einem Tresen bezahlt – fast genauso, wie es heute noch funktioniert.


Foto: Interior of a Piggly Wiggly self-service grocery store in or near Memphis, Tenn.: Clarence Saunders/Library of Congress, Public Domain

Piggly Wiggly verzichtete auf den damals etablierten Lieferservice und Bestellungen per Telefon. Die Mitarbeiter im Laden waren angewiesen, Kunden lediglich bei der Orientierung zu helfen, nicht aber beim eigentlichen Einkauf. Wer für den Transport nachhause einen Korb benötigte, musste dafür zahlen.

Dafür hingen erstmals Schilder mit festen Produktpreisen an kleinen Haken am Regal; Mehl brauchte nicht aus riesigen Fässern in der Ladenmitte geschaufelt werden, sondern war in praktischen Größen von einer riesigen Maschine vorgepackt; dazu gab es 1000 Produkte zur Auswahl – vier mal so viele wie in Lebensmittelläden mit klassischer Bedienung.

Zur Eröffnung ließ Saunders Ballons an die Kinder und Blumen an die Damen verschenken und veranstaltete einen Schönheitswettbewerb mit Preisgeld. In den von ihm selbst getexteten, maximal unbescheidenen Werbeanzeigen in der Lokalzeitung stand:

„The Piggly Wiggly self-serving system that is going to revolutionize the retail grocery business.“

So großkotzig das damals auch geklungen haben mag: Es stimmte. Weil Saunders etwas Grundlegendes verstanden hatte: dass Kunden offensichtlich bereit sind, völlig neue Zumutungen in Kauf zu nehmen, wenn sie dafür an anderer Stelle ein paar alte abgenommen bekommen, die sie als sehr, sehr lästig empfinden. (Aufs Jahr 2016 übertragen zum Beispiel: Kassenschlangen.)

Gegen widrige Umstände

Das bedeutet keinesfalls automatisch, dass es Amazon mit seinen kassenlosen Supermärkten genauso gelingen wird. Aber es ist ein hochinteressanter Beleg dafür, wie vermeintlich kleine Innovationen ein eigentlich fest etabliertes System vollständig umkrempeln können, wenn sich daraus ein entscheidender Vorteil ergibt.

Letztlich setzte sich auch Saunders gegen widrige Umstände durch: Zum Beispiel Hersteller, die Händlern feste Preise für ihre Markenprodukte diktieren wollten – woraufhin Saunders auf Eigenmarken umschwenkte. Und gegen Bäckereien, die Piggly Wiggly mit Lieferstopps blockierten, um sich gegen Niedrigpreise zu wehren – woraufhin Saunders kurzerhand einen Deal mit Bäckern aus dem Nachbarbundesstaat abschloss. Die bisherigen Einkaufsgewohnheiten der Kunden allerdings waren kein Hindernis.


Foto: Piggly Wiggly trucks: Library of Congress, Public Domain

Dass Piggly Wiggly heute trotzdem nicht die größte Supermarktkette der Welt ist, liegt daran, dass sich Saunders nach seinem Erfolg maßlos überschätzte und übernahm. Ein viel zu schnell vorangetriebenes Wachstum per Franchise-System produzierte Flops, der Grüner zerstritt sich mit seinen Geldgebern und ließ sich aus seiner eigenen Firma werfen. Er versuchte, an den alten Erfolg anzuknüpfen und ging dabei bankrott. Piggly Wiggly wurde aufgespalten, mehrfach verkauft und ist heute bloß noch Anhängsel eines von vielen amerikanischen Handelsunternehmen.

Selbst Sauders einst so praktische Drehkreuze sind aus den meisten Läden wieder verschwunden, weil sie hässlich und unfreundlich sind.


Abb.: United States Patent and Trademark Office, Public Domain

Doch die in Memphis etablierte Idee, dass Kunden sich beim Einkauf sprichwörtlich selbst bedienen, und im Gegenzug von niedrigeren Preisen profitieren, ist über viele Jahrzehnte fast genauso erhalten geblieben. Bis zur heutigen Zeit, in dem wir Lebensmittel zwar ganz selbstverständlich zu Niedrigpreisen kaufen können – plötzlich aber wieder überlegen, ob es nicht bequemer wäre, sie direkt nachhause geliefert zu kriegen. Oder im Laden zumindest ein Schwätzchen mit dem freundlichen Verkäufer zu halten, der unsere Gewohnheiten ganz genau kennt.

Natürlich gibt es immer gute Argumente, die dagegen sprechen, dass sich neue Handelskonzepte bei den Kunden durchsetzen. Nur eins zählt mit Sicherheit nicht dazu: Dass die Regeln, an die wir heute gewöhnt sind, morgen noch genauso gelten müssen.


Quelle für diesen Text ist das Buch „Clarence Saunders and the Founding of Piggly Wiggly: The Rise & Fall of a Memphis Maverick“ von Mike Freeman (The History Press, 2011), der auf 150 Seiten akribisch die Details der Piggly-Wiggly-Historie und der Lebensgeschichte des Grpnders zusammengetragen hat. Falls Sie sich für die Details interessieren: das Buch gibt’s hier, bei – ähm: Amazon.

Titelfoto: Piggly Wiggly #4, 1930 by ABQ Museum Photoarchives, CC-BY 2.0 via Flickr; Foto Saunders: Library of Congress, Public Domain; Regalfoto: Interior view of a Piggly Wiggly self-service grocery store showing merchandise on shelves: C. Saunders/Library of Congress, Public Domain

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2 Kommentare
  • Danke für diesen „ungewöhnlichen“ Beitrag. Es ist immer wieder erhellend, solche „Geschichten“ zu lesen, in denen die, die behaupten, etwas könne nicht funktionieren, weil es bisher immer anders war, am Ende in die Röhre gucken.
    Was mich bei dieser Sache hier aber wundert, ist, dass bei den Sorgen das Thema „Diebstahl“ überhaupt keine Rolle spielte.

    • Doch, Diebstahl war durchaus ein Thema und Saunders hat, wenn ich das recht erinnere, das auch freimütig zugegeben. Es hat aber offensichtlich den Erfolg des Konzepts nicht verhindern können.

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