„Deliveroo Editions“ in London: Unter dieser Bahntrasse wird gerade Ihr Lieferessen aus dem Internet gekocht

„Deliveroo Editions“ in London: Unter dieser Bahntrasse wird gerade Ihr Lieferessen aus dem Internet gekocht

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Deliveroo will Stadtteile mit Lieferessen versorgen, in denen es nicht genügend klassische Restaurants gibt. Notfalls wird dafür zwischen Bahntrasse und Autobahn gekocht.

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Im Sommer des vergangenen Jahres ist das britische Lieferessen-Start-up Deliveroo in einen Büropalast an der Londoner Cannon Street umgezogen. Am neuen Standort ist auf 5.000 Quadratmetern Platz für 900 Mitarbeiter. Es gibt 27 nach Lieblingsgerichten benannte Konferenzräume. Und massig Austobe- und Abhängmöglichkeiten, damit die Angestellten nicht neidisch auf ihre Kollegen aus dem Silicon Valley sein müssen.

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Teams können schaukelnd konferieren, in Korbhängesesseln neue App-Funktionen ausdenken, die herumstehenden Obstteller leer futtern und vor dem Besuch im Büro-eigenen Fitnessstudio auf dem kissenbeschmückten „Center Court“ in ganz großer Runde besprechen, mit welchen Mitteln sich die Lieferessenweltherrschaft durchsetzen ließe. Die Aussicht auf der Dachterrasse Richtung Tower Bridge ist auch nicht übel. (Bilder bei Business Insider ansehen.)

In den Genuss von soviel Arbeitskomfort kann selbstverständlich nicht jeder kommen, der mithilft, Deliveroo als international expandierenden Star der britischen Start-up-Szene glänzen zu lassen.

Container-Küchen für mehr Bestellvielfalt

Acht Kilometer weiter östlich am Rand des Bankenviertels Canary Wharf, wo das Unternehmen im vergangenen Jahr ebenfalls einen neuen Standort eröffnet hat, sieht es jedenfalls nicht mehr ganz so schick und repräsentativ aus.

Schon der Weg dorthin dürfte ausschließlich von leidenschaftlichen Betonenthusiasten als malerisch empfunden werden.

Wer sich davon nicht abschrecken lässt, landet irgendwann eingeklemmt zwischen Industriegebiet und Schnellstraße A1261, wo sich eines der Lieferküchen-Kollektive befindet, aus denen Deliveroo Stadtteile mit leckerem Essen versorgen will, in denen es zu wenig klassische Restaurants gibt.

„Deliveroo Editions“ soll das ändern: In zu Küchen umgebauten Schiffscontainern bereiten Partner aus der Gastronomie Mahlzeiten ausschließlich für die Auslieferung zu.

Fenster gibt es in den auf Holzbalken aufgebockten Blechkombüsen keine, dafür massig Lüftungsschlitze an der Seite. Nicht alle sind so hübsch bunt beklebt und so großzügig auf dem Gelände einer alten Brauerei verteilt wie im Londoner Stadtteil Camberwell, wo Deliveroo „Editions“ besonders schick gemacht hat, damit man auch Journalisten ohne Bedenken hinlassen kann.

Essen aus der Betonschlucht

Weiter im Osten, am Ende der Isle of Dogs, kommt das Essen für die hungrigen Kunden in den nahegelegenen Büro- und Wohntürmen dagegen direkt aus einer Betonschlucht: vom (privatisierten) Parkplatz der Blackwall DLR Station, wo neben den Pfeilern der Dockland-Light-Railway-Bahntrasse gekocht wird.

Die zehn Container stehen dort so eng zusammen, dass es sich empfiehlt, die Luft anzuhalten, wenn man sich dazwischen bewegen möchte. Platz für dekorative Topfpflanzen bleibt nicht.

Stattdessen ist die Fläche zur Straße hin von einem Gitterzaun mit spitz zulaufenden Metallpfeilern eingegrenzt; Flutlichtschweinwerfer sorgen dafür, dass die mehrmals in der Minute über die Parkplatzzufahrt heran sausenden Kuriere auch spätabends den Weg zur richtigen „Roobox“ finden (wie die durchnummerierten Container genannt werden).

Das Ensemble sieht ganz und gar nicht nach den „upmarket takeaways“ aus, für die Deliveroo stehen möchte; eher nach einer Strafanstalt für Köche.

An jeder der schwarz-türkisen Fronten steht die Nummer der Roobox und der Name des „Restaurants“, das sich dort eingemietet hat; vor der Tür wacht artig ein Wischmopp darüber, dass sich keine Fremden nähern.

Zwei bis drei Mitarbeiter sorgen in jedem der tageslichtsicheren Container dafür, dass hungrige Deliveroo-Besteller daheim nicht verhungern müssen, auch wenn sie keine Lust haben, sich selbst in die Küche zu stellen oder gar das Haus zu verlassen.

(Im Zweifel passt auch noch ein Pizza-Ofen auf die paar Quadratmeter, wie einer der Container erahnen lässt, an dessen Rückseite ein metallener Abzug montiert wurde.)

Es ist nicht ganz klar, ob Deliveroo-Gründer William Shu sich die Zukunft seines Erfolgsunternehmens wirklich so vorgestellt hat, als er der (selbst verbreiteten) Legende nach im Februar 2013 in einem der Bürotürme in wenigen hundert Metern Entfernung die Idee hatte, hungrige Büroangestellte und Zuhausebleiber mit besserem Lieferessen zu beglücken, als es damals in London Standard war.

Jetzt, fünf Jahre später, ist das vielleicht auch egal. Vor allem, weil sich Shu – wie seine Kunden – ja nicht selbst an den Herd stellen muss, damit das Geschäft läuft.

Denn es sieht tatsächlich so aus, als könnten die unwirtlichen Kochanstalten eine wesentliche Rolle für den zukünftigen Erfolg des modernen Lieferessens spielen.

Jetzt auch in: Paris, Mailand, Hong Kong

Zumindest ist es beachtlich, wie zügig Deliveroo mit seinen „dark kitchens“ neue Städte erobert – selbst wenn das arg ambitionierte Ziel von 200 Rooboxes in Großbritannien bis zum Ende des vergangenen Jahres nicht eingehalten werden konnte. Dafür ist „Editions“ bereits in Paris, Mailand, Hong Kong, Dubai und Singapur gelandet. Im australischen Melbourne hat Deliveroo eine alte Fabrikhallenfläche ergattert, um dort in Mini-Küchen Burger, Pizza und Thai-Essen zubereiten zu lassen.

Den Reportern der australischen Website news.com.au hat Shu dazu verraten, was für Gastronomen das Besondere an dem Modell ist:

„They don’t rent a kitchen … our core business is we take a commission on each order. In this set up, these guys [restaurant owners] can choose to actually contribute capital for the build out, or they can say, ‘hey we don’t have that much money’ and we’ll front that and they will pay a slightly higher commission.”

Zusammengefasst: Die Partner zahlen keine feste Miete, sondern – wie schon für die Lieferung – eine Kommission pro Essen und können dafür die von Deliveroo bezahlte Infrastruktur nutzen.

Kommet, ihr Gastronomen, oh kommet doch all

Das klingt erstmal nach großer Flexibilität, zumal dadurch auch junge Gastronomen eine Chance kriegen, sich einen treuen Kundenstamm aufzubauen, so lange sie sich noch keine hohe Miete für einen festen Laden leisten können. (Mehr dazu bei CNET.) Allerdings verlagert Deliveroo zugleich einen wesentlichen Teil des Risikos auf die Partner, die zwar nicht die Küche, aber ihre Mitarbeiter auf eigene Rechnung bezahlen. Wenn der Laden gut läuft, verdient Deliveroo an jedem zusätzlich bestellten Lieferessen mit; wenn nicht, bleibt der Partner alleine auf seinen Personalkosten sitzen.

Trotzdem scheint das Unternehmen keinerlei Probleme zu haben, Restaurants für seine Lieferküchen zu gewinnen.

Landesweit etablierte Ketten (z.B. Gourmet Burger Kitchen) sind genauso an Bord wie junge Street-Food-Pizzabäcker (z.B. Crust Bros.); selbst Sterne-Köche probieren aus, ob sie auch außerhalb des klassischen Ambientes erfolgreich sein können.

105 Küchen-Container hat Deliveroo laut „Bloomberg“ bislang weltweit aufgestellt. Als nächster Markt steht Indien auf der Liste. Auch nach Deutschland soll „Editions“ kommen (siehe Supermarktblog) – wann genau, verrät Deliveroo nicht.

Die nächste Restaurant-Wüste wartet schon

Das könnte auch daran liegen, dass sich das Unternehmen anfangs im Heimatmarkt mit den notwendigen Genehmigen für die Container-Dörfer und der Nachbarschaftsakzeptanz verkalkuliert hat: Der „Guardian“ berichtet, dass sich Anwohner im Umfeld von „Editions“-Standorten über den Lärm beschwert haben, der durch den permanenten Lieferverkehr auch in den Abendstunden verursacht werde; ein Stadtbezirk bemängelte, Deliveroo habe keine Baugenehmigung für einen seiner Container-Standorte eingeholt.

Das Unternehmen beteuert, Gespräche zu führen, um diese Probleme auszuräumen.

Auch in großen deutschen Städten wie Berlin, Hamburg und Köln dürften solche Abstimmungen Zeit kosten. Funktionieren dürfte die Idee aber auch hierzulande: In vielen Metropolen gibt es Restaurant-Wüsten, deren Bewohner sicher nichts dagegen hätten, von einer erweiterten Lieferauswahl zu profitieren.

Vor allem, wenn Deliveroo durch Suchanfragen schon genau weiß, welche Küchen die künftigen Besteller in ihrer Umgebung vermissen. Ziel sei es, „solche Restaurants in eine spezifische Gegend zu bringen, die dort die größte Erfolgschance haben“, erklärt das Unternehmen seine datengetriebenen Standortauswahl.

Mehr Umsatz, mehr Kunden

Deliveroo-Gründer Shu ist überzeugt vom Erfolg des „Editions“-Konzepts:

„Everything here is geared specifically for delivery. You don’t have a front of house servicing customers and also delivering orders at the same time. So on average deliveries from Editions are about five minutes faster than our average delivery.“

Schnellere Lieferungen bedeuten mehr Umsatz, zufriedenere Gastronomen und glückliche Kunden.

Jetzt muss nur noch jemand den Köchen beibringen, dass es nichts Schöneres gibt, als sich künftig in Betonschluchten und auf Parkplätzen am Rande der Autobahn ungestört auf die kulinarische Finesse zu konzentrieren. Ohne Aussicht und ohne Obstteller.

Fotos: Supermarktblog, Logo: Deliveroo"

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9 Kommentare
  • Ich frage mich bei dem Editions-Konzept, wie sehr es sich um Ergebnis von den ganzen „normalen“ Lieferservice-Anbietern unterscheidet, die ebenfalls nicht als Restaurant agieren. Der Pizzadienst von einst lebte zu 90% von Lieferungen und hatte vielleicht zwei Stühle und einen Tisch an seiner Adresse für Selbstabholer Deliveroo sollte das Essen bei echten Restaurants abholen. Auch wenn sich Editions vielleicht „echte“ Köche holt, sind es vielleicht doch „nur“ die ehemaligen Pizzabäcker die hier dann piefige Burger für den Stadtrand zusammen pappen.

    • Der einfache Pizzadienst verfügte aber 1. z.B. zu keiner Zeit über einen riesigen Pool an Daten über die Gewohnheiten potenzieller Kunden; und 2. geht es ja darum, einen Lieferservice für Restaurants zu etasblieren, die von scih aus gar keinen eigenen Lieferservice anbieten würden (= massive Markterweiterung). Siehe dazu auch alle anderen Texte, die dazu im Blog erschienen sind.

    • Schade, dass man keinen Blick in die „Küchen“ werfen kann. Ob es da drin mit der Hygiene so viel besser aussieht? Puh, mir vergeht der Appetit, je länger ich über diese neue Art von Lieferessen nachdenke. Ich glaube, ich koche doch lieber weiter selbst…

    • Die Rooboxes, die ich gesehen habe, hatten das höchstmögliche „Hygiene Food Rating“-Label (5) der britischen Food Standards Agency, siehe dazu auch hier.

    • Danke für den Link. In Reading scheint es allerdings nur für durchwachsene 2-4 Punkte zu reichen. 4 Punkte erreichen gem. Suchfunktion auch z.B. die meisten Pizza Huts.

  • Die Erschließung von Restaurant-Wüsten bedeutet potentiell einen riesigen Markt, aber ich frage mich ob man in solchen Containern das Qualitätsniveau halten kann. Der ursprüngliche Gedanke von Deliveroo ist ja die Restaurant-Qualität nach Hause zu holen und das funktioniert weil die Restaurants in der Stadt sehr viel Konkurrenz haben und sie auch für Gäste vor Ort interessant sein müssen. Bekommt man bei Deliveroo Editions also Essen wie im Restaurant oder nähert es sich eher dem Imbiss/klassischen Lieferservice an?

    Ich bin gespannt welche Wüste in Deutschland zuerst begrünt werden soll.

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