Erinnern Sie sich noch an die Zeit vor Corona, als alle paar Monate eine neue Studie dazu erschien, dass sich Kund:innen beim Online-Einkauf von Lebensmitteln angeblich nur Trockenfutter zu bestellen trauen, weil sie Obst und Gemüse lieber selbst im Markt andrücken wollen?
Vergessen Sie’s.
Zumindest macht die Fuldaer Supermarktkette Tegut mit ihrem Lieferservice-Test in Südhessen gerade ziemlich andere Erfahrungen. Thomas Wingenfeld, Bereichsleiter Einkauf Services bei Tegut, sagt:
„Kund:innen kaufen einen hohen Anteil frische Produkte, vor allem Obst und Gemüse, Molkereiartikel, aber auch Tiefkühlung und Getränke.“
Man registriere „ähnliche Einkaufsgewohnheiten wie in unseren stationären Läden, vor allem hinsichtlich des hohen Anteils an Bio-Artikeln“ (der in den Tegut-Märkten 2020 bei rund 30 Prozent lag, deutlich höher als bei den meisten anderen Handelsketten).
„Dass so viele frische und ultrafrische Produkte gekauft werden, hat uns anfangs auch überrascht.“
Aber es hilft ja nichts: Online-Lebensmittelkäufer:innen scheinen, anders als es sich die Branche lange eingeredet hat, gar keine besonders ängstliche Spezies zu sein, zumindest aber nicht (mehr) scheu beim Erwerb von Äpfeln, Paprika und Avocado, selbst wenn die jemand anders für sie aussucht.
Platz im Markt für den Lieferservice
Das mag an Corona liegen; oder schlicht an der Gewohnheit, dass die Ware – wenn bei der Auslieferung alles so klappt, wie es soll – völlig in Ordnung ist, wenn sie an die Tür gebracht wird. Nach zahlreichen anderen Händlern macht nun jedenfalls auch Tegut die Erfahrung, dass Kund:innen es ganz gut finden, nicht mehr so oft selbst in den Laden zu müssen, damit sich der Kühlschrank zuhause füllt.
Ein gutes halbes Jahr ist es her, dass die zu Migros Zürich gehörende Handelskette ihre Kooperation mit Amazons Schnelllieferdienst Prime Now startete – zunächst als Test im Großraum Darmstadt (siehe Supermarktblog). Dafür aber mit dem Versprechen, online bestellte Lebensmittel auf Wunsch sofort bzw. noch am selben Tag vorbei zu bringen. Die Zwischenbilanz fällt äußerst positiv aus. Thomas Wingenfeld sagt:
„Wir registrieren eine hohe Zufriedenheit der Kund:innen, die über Prime Now bestellen, die Wiederkaufrate liegt deshalb relativ hoch. Wer den Service einmal ausprobiert hat, nutzt ihn sehr wahrscheinlich wieder.“
Bestellt werden muss mindestens für 20 Euro, ab 50 Euro entfallen die Lieferkosten – und genau das nutzt auch die überwiegende Zahl der Besteller:innen.
Dass die Wahl auf Südhessen als Testgebiet fiel, hatte mehrere Gründe:
„In der Diskussion mit Amazon haben wir uns zu Beginn der Pandemie gefragt, wie wir ohne große Umbauten möglichst schnell mit einem solchen Angebot starten können. Der Markt in Weiterstadt war prädestiniert dafür, weil wir dort unser vollständiges Sortiment anbieten können und weil es eine geeignete Fläche gab, um die Kommissionierung und den Versandprozess abzuwickeln.“
Soforteinkauf für die ganze Woche
Sämtliche über die Prime-Now-App oder auf der Website bestellten Artikel werden im Markt von eigens dafür angestellten Picker:innen aus dem Regal gesucht, transportfähig in Taschen mit Kühlakkus verpackt und anschließend für Amazon-Flex-Fahrer:innen zur Abholung bereitgestellt. Die von Wingenfeld erwähnte Fläche für Packtische und Abholregale war vor mehreren Jahren mal als Marktcafé genutzt worden. Nachdem das Konzept nicht mehr weiterverfolgt wurde, ist der vom eigentlichen Laden abgetrennte Bereich jetzt für den Lieferservice reserviert.
Bestellen können derzeit Prime-Now-Mitglieder in 56 Postleitzahlen-Gebieten, vom südlichen Frankfurt bis nach Bensheim. Nach dem Start im vergangenen August ist das Angebot direkt auf großes Interesse gestoßen, sagt Wingenfeld:
„Wir waren von Tag 1 an der Kapazitätsgrenze und haben deswegen weitere Picker:innen eingestellt, um mehr Lieferfenster anbieten zu können.“
Die Zahl der Mitarbeiter:innen, die Online-Einkäufe packen, variiert im Laufe des Tages und im Verlauf der Woche. Wieviele Bestellungen bearbeitet werden, mag man in Fulda nicht sagen – die Zahl dürfte derzeit aber noch unter 400 liegen, die langfristig (pro Laden) notwendig sein werden, um wirtschaftlich zu arbeiten. Man befinde sich weiterhin in der Hochlaufphase, erklärt Wingenfeld. Auch durch die wechselnden Corona-Maßnahmen sei es schwer vorherzusagen, wie sich die Zahl der Bestellungen entwickeln werde. Man wisse derzeit vor allem, dass die Kund:innen das Angebot annehmen.
Eins ist allerdings klar: Der durchschnittliche Warenkorb der Bestellungen liegt schon jetzt höher als im stationären Handel. Wingenfeld vermutet:
„Viele Kund:innen decken sich bei uns über Prime Now für die ganze Woche ein.“
Ähnliche Stoßzeiten wie im Laden
Außerdem werden die meisten Einkäufe für eine Lieferung am selben Tag bestellt:
„Wir erreichen also viele Kund:innen, die eher kurzfristig planen – obwohl sie einen großen Warenkorb einkaufen.“
Durch die hohe Zahl der Kund:innen, die im Homeoffice arbeiteten, seien aktuell vor allem Zeitfenster am Morgen und zu Beginn der Woche beliebt. Entspannter läuft der Einkauf zwischen Dienstag und Donnerstag. Eine weitere Entwicklung spricht ebenfalls dafür, dass Kund:innen Lebensmittel online ganz ähnlich einkaufen wie sie es auch sonst gewohnt sind:
„Der Betrieb des Lieferservices hat sich analog zu den Stoßzeiten im stationären Handel entwickelt; Peaks sind vor allem montags, freitags und samstags. Das ist für die Planung natürlich eine Herausforderung, weil dann auch viele Kommissionierer:innen auf der Fläche unterwegs sind.“
Damit sich Kund:innen und Picker:innen nicht gegenseitig im Weg stehen, testet Tegut verschiedene Strategien. Man sei froh, „dass wir für den Piloten eine so große Filiale ausgewählt haben, die über breite Gänge und ausreichend Raum für Doppelplatzierungen von Produkten verfügt“, erklärt Wingenfeld. Dass die zusätzliche Palette mit der Tomatensoße in erster Linie für die Picker:innen positioniert ist, ahnt die Kundschaft im Laden natürlich nicht.
Zudem wird ausprobiert, ob sich Produkte, die besonders häufig gekauft werden (so genannte „Schnelldreher“), direkt auf der Lieferservice-Fläche lagern lassen, um zügiger an Milch und Mozzarella dranzukommen. Das verschlanke die Prozesse und spare Zeit beim Picken, sagt Wingenfeld.
„Das Risiko besteht aber darin, an zwei Stellen im Markt mit Ware zu hantieren, bei der das Mindesthaltbarkeitsdatum im Blick behalten werden muss.“
Der Laden als Lager
Das über den Lieferservice verfügbare Sortiment entspricht inzwischen weitgehend dem, das auch regulär im Markt erhältlich ist – mit einzelnen Ausnahmen:
„Wir haben die Zahl der Produkte erhöht, aber auch einzelne Artikel wieder ausgelistet, insbesondere solche aus dem Preiseinstieg, die für uns nicht wirtschaftlich darstellbar sind und für die wir in derselben Kategorie gute Alternativen anbieten. Prime-Now-Kund:innen können aber weiterhin auch viele Produkte zum Discount-Preis einkaufen.“
Die Preise der Ware entsprechen denen im Markt, nur Sonderangebote gibt es derzeit keine. Man überlege aber, inwiefern es sich lohne, Aktionspreise einzuführen, erklärt Wingenfeld. Auch Möglichkeiten, Kund:innen auf weniger bestellintensive Zeiten umzulenken, werden debattiert:
„Das ist ein Thema, mit denen wir uns aktuell beschäftigen, um die Peaks etwas zu glätten und unsere Personalplanung zu vereinfachen.“
Und wenn bei Kommissionierung oder Lieferung mal was schief läuft?
„Wir wissen durch unser wöchentliches Reporting sehr gut, bei welchen Produkten wir Probleme hatten und was bei den Kund:innen nicht so gut ankam.“
Prime Now beschert Tegut Zusatzumsätze
Zu den größten Herausforderung gehöre nach wie vor die Kapazitätsplanung, die aufgrund von Nachfrageschwankungen – auch durch Corona – noch nicht so eingespielt sei, wie man sich das in Fulda wünscht. Man rechne aber für die Zukunft „mit einer sehr viel besseren Planbarkeit“, sagt Wingenfeld – vor allem wegen der vielen Wiederbesteller:innen:
„Der Service funktioniert derzeit alleine mit seinen Bestands- und Stammkund:innen. Deshalb haben wir bislang auch noch kein intensiveres Marketing betrieben.“
Unterm Strich ist das Lieferexperiment aus Sicht der Handelskette also gelungen. Über konkrete Zahlen mag Wingenfeld zwar nicht sprechen, bestätigt aber, dass sich die mit Prime Now generierten Umsätze in Weiterstadt „derzeit ungefähr im Rahmen eines großen Nahversorgermarkts“ bewegen. Das ist auch deshalb interessant, weil es sich zu einem großen Teil um Zusatzumsätze handeln dürfte:
„Wir sehen ganz eindeutig, dass es in den Tegut-Filialen innerhalb des Prime-Now-Liefergebiets keine Umsatzrückgänge gibt. Daraus schließen wir, dass wir mit dem Service Kund:innen hinzu gewinnen.“
Ein konsequenter nächster Schritt wäre deshalb, den Service auch in anderen Regionen anzubieten. Darüber werde nachgedacht, bestätigt Wingenfeld:
„Dadurch dass Nachfrage und Kund:innenzufriedenheit so groß sind, befinden wir uns gerade im Gespräch mit Amazon, um das Modell weiterzuentwickeln. Bei einigen Punkten wollen wir noch besser werden. Aber sowohl wir als auch Amazon sind da sehr positiv gestimmt.“
Expansion auf weitere Filialen?
Tegut-Geschäftsführer Thomas Gutberlet hatte kürzlich bereits angedeutet, dass zwei bis drei neue Filialen hinzu kommen könnten und man die Lieferung auf ganz Frankfurt ausweiten wolle. Das will man in Fulda aktuell aber noch nicht bestätigen.
Fraglich ist zudem, ob die Erweiterung überhaupt noch unter dem Prime-Now-Label erfolgen wird: Amazon weist Kund:innen seines Schnelllieferdiensts derzeit bereits in anderen Regionen unübersehbar darauf hin, dass sie das gewohnte Prime-Now-Angebot auch über Amazon.de bzw. den Lebensmittellieferdienst Fresh erhalten (siehe Supermarktblog). In zahlreichen Amazon-Ländern sind kooperierende Lebensmittelhändler bereits mit einer eigenen „Storefront“ ins Hauptangebot integriert. Dazu, ob dies auch für Tegut geplant ist, äußert sich das Unternehmen nicht. (Es ist aber sehr wahrscheinlich.)
Interessant wird vor allem zu beobachten sein, wie Tegut bei einer Erweiterung des Diensts vorgehen würde. Denn überschüssigen Platz für die Integration von Lieferservice-Flächen dürften nicht all zu viele Filialen haben. Thomas Wingenfeld sagt:
„Bei Neueröffnungen können wir separate Flächen für die Bearbeitung von Online-Bestellungen gut einplanen. Bei Bestandsmärkten ist das natürlich herausfordernd, weil wir einen bestehenden Markt nicht dadurch schwächen wollen, dass wir ihm Verkaufsfläche wegnehmen. Im urbanen Umfeld wird das Konzept sicher nicht so leicht umzusetzen sein.“
Abholservice als denkbare Erweiterung
Dafür vielleicht in Märkten am Stadtrand? Dort könnten im Zweifel auch Container auf Parkplätzen aufgestellt werden, um zusätzlichen Platz zu schaffen. Bislang ist das aber lediglich Spekulation.
Über eine andere Erweiterung des Diensts – zum Beispiel mit einer Abholmöglichkeit vorbestellter Ware (Click & Collect), wie es andere Handelsketten bereits ausprobieren, ließe sich ebenfalls nachdenken. Wingenfeld ist noch vorsichtig:
„Auch da befinden wir uns aktuell in Abstimmung mit Amazon.“
Funktionieren kann all das aber nur, wenn das neue Geschäft nicht zu Lasten der stationären Läden geht, die für Tegut weiterhin im Fokus stehen (siehe Supermarktblog). Wobei Prime Now die Handelskette dabei unterstützt haben dürfte, herauszufinden, an welchen Orten Tegut-Online-Stammkund:innen wohnen, die sich höchstwahrscheinlich auch für einen stationären Laden begeistern ließen. Thomas Wingenfeld sagt:
„Natürlich helfen uns die über Prime Now generierten Daten auch dabei, Rückschlüsse für eine Erweiterung unseres Vertriebsgebiet zu ziehen.“
Zur Abwechslung will ja vielleicht auch die bzw. der ein oder andere Vielbesteller:in mal wieder zum stationären Auberginendrücken vorbeikommen.
Nachtrag, 24. März: Tegut und Amazon haben bekannt gegeben, dass ab sofort zusätzliche PLZ-Gebiete mit Prime Now beliefert werden: der Norden Frankfurts, Großteile des Zentrums und die umliegenden Einzugsgebiete, z.B. Bad Vilbel, Karben, Nidderau und Teile von Offenbach. (Eine Übersicht der Lieferregionen gibt es online.) Die Kommissioinierung erfolgt aus einem Tegut-Markt in Karben nördlich von Frankfurt, neben dem zusätzliche Räumlichkeiten angemietet wurden.
Bei tegut erscheint dass derzeit leider technische Schwierigkeiten bestehen. Das geht schon 1 Woche. Wann wird der Schaden behoben?
Was mich persönlich ärgert bei Amazon Prime now ist, dass man für den Einkauf über Amazon Prime bei Tegut weder Tebonus-Punkte bekommen kann, noch Prämienpunkte, wenn Aktionen sind. Wo das in den Kauf- und Lieferbedingungen bei Tegut steht, konnte mir bisher niemand vom Tegut-Kundendienst sagen. Lt. Auskunft des Tegut-Kundenservice sei das eine Sache zwischen Amazon und Tegut…. Es würde nirgends stehen. Das finde ich, ehrlich gesagt, unmöglich.