Um sich gegen Angreifer zu wehren, hat die Westliche Hakennasennatter (Heterodon nasicus) ein paar super Tricks drauf: Sie kann ihren Hals in die Breite spreizen, um größer zu wirken, lässt ihren Kopf zu Scheinangriffen nach vorne schnellen und kann sich, wenn das alles nichts bringt, sehr glaubwürdig tot stellen. Also ungefähr so wie die meisten Start-ups, die mit hochtrabenden Visionen ins Business-Licht dieser Welt treten, um dann über die Markt-Realitäten zu stolpern.
Das Hamburger Technologie-Start-up Autonomo befindet sich gerade irgendwo in der Mitte dieser Angriffs- bzw. Abwehrstrategie.
Ein Dreivierteljahr ist es her, dass Autonomo, unterstützt vom Ex-Real-Chef Patrick Müller-Sarmiento (der inzwischen für Roland Berger berät), seinen ersten eigenen Kassenlos-Minimarkt Hoody im Hamburger Stadtteil Eppendoprf eröffnete und zum Auftakt ohne unnötige Bescheidenheit allerlei Buzzwords an die Presse schickte, die dort dankbar aufgenommen und weiterverbreitet wurden: hyperlokal, biologisch und menschlicher sollte der Kassenlos-Einkauf im ersten Hoody-Markt Deutschlands (inspiriert vom englischen Nachbarschaftsbegriff „neighbourhood“) sein.
Und es versteht sich ja von selbst, dass sich die Dinge im Laufe der Zeit ändern, wenn man erste Erfahrungen mit neuen Geschäftsmodellen gesammelt hat.
Wieder einkassierte Versprechen
Wie schnell wesentliche Ankündigungen zur „deutschen Antwort auf Amazon Go“ („Handelsblatt“) von Autonomo wieder einkassiert wurden, ist dann aber doch erstaunlich.
- Vom ursprünglichen Vorhaben, mehrere Hoody-Märkte – auch in anderen deutschen Städten – zu eröffnen, ist man in Hamburg bereits vor einigen Wochen wieder abgerückt.
- Die Komplett-Fokussierung auf biologisch hergestellte Produkte ist ebenfalls Geschichte: Aus der Schaufenster-Selbstdarstellung („Dein Lokaler Bio-Markt“) ist einfach „Bio-“ herausgekratzt worden, drinnen gibt es jetzt u.a. auch Kinder Schoko Bons zu kaufen.
- Und die geballte Beratungskompetenz der Mitarbeitenden, denen Hoody sinnerfüllte Jobs versprach, hab ich bei meinem Erstbesuch auch nicht erfahren dürfen; stattdessen schlich sich eine sehr zurückhaltende Mitarbeiterin leise aus dem Abstellraum, um aus einer Edeka-Tüte ein paar fehlende Produkte ins Regal nachzuräumen und möglichst schnell wieder zu verschwinden.
Sonderlich professionell wirkt das alles (noch) nicht.
Autonomo-COO Fabian Winner erklärt auf Supermarktblog-Anfrage, wie es zur Aufgabe der Bio-Fokussierung kam (die in der App noch nicht vollzogen ist):
„Das HOODY-Konzept involviert die Community in und um Eppendorf. Wir sind mit einem Sortiment gestartet, welches rein und allein aus bio und lokalen Sortimenten bestand. In den vergangenen Monaten hat sich die lokale Community auch vermehrt konventionelle Sortimente gewünscht, die nun sukzessive in den HOODY integrieren und diese auch als ‚Community Produkte‘ definieren.“
Technologie-Vermarktung hat Vorrang
Dass keine neuen Hoody-Läden eröffnen, erklärt man in Hamburg mit dem „Andrang an Anfragen von verschiedensten Branchen“, „sodass wir uns dazu entschieden haben uns vorerst auf die Expansion mit Partner zu fokussieren und an diese Partner unsere Technologie zu verkaufen“. Erste Ankündigungen dazu sollen in Kürze folgen. (Vermutlich nicht nur aus dem Lebensmittel-Segment.)
Von vornherein war fraglich, ob Hoody als eigenständige Kette wirklich existenz- bzw. konkurrenzfähig gewesen wäre.
Dabei wäre Autonomo ein Erfolg durchaus zu wünschen, da es hierzulande ein großes Potenzial kleinerer Handelsketten bzw. unabhängiger Ladenbetreiber:innen gäbe, die Kassenlos-Tests wagen könnten, ohne dafür direkt mit einem der international agierenden Marktführer in der Branche in Kontakt treten zu müssen – sondern idealerweise mit einem Start-up, das den deutschen Markt versteht.
Dafür müsste die bei Hoody zum Einsatz kommende Technologie aber mindestens gleich gut funktionieren wie die Vorbilder von AiFi, Trigo und Amazon, die allesamt unter Hochdruck an der Verbesserung arbeiten, um alle vorab getätigten Versprechen einzulösen.
Alles sauber abgerechnet
Bei meinem – nicht sonderlich komplizierten – Hoody-Testeinkauf vor Ostern hat die Technologie schon mal einwandfrei funktioniert: Limonade, Sandwich, lose Karotten, Äpfel und Bananen (zum Stückpreis), Kekse, Quark und Schokolade wurden im Gruppeneinkauf mit Begleitpersonen richtig erkannt und korrekt abgerechnet. Der digitale Bon war nach 20 Minuten in der App verfügbar.
Für den Einkauf ist (wie bei anderen Pick-&-Go-Konzepten) die einmalige Registrierung per App notwendig, anschließend hinterlegt man eine Zahlmöglichkeit (Kreditkarte oder PayPal), muss an der Eingangsschranke einen per Smartphone generierten QR-Code scannen und kann einkaufen, ohne sich nachher an eine Kasse anstellen zu müssen. Möglich macht das eine Technologie, die laut App unter „Verwendung von Gesichtserkennung“ bzw. laut Datenschutzerklärung „anhand visueller Merkmale wie der Farbe und Beschaffenheit Ihrer Kleidung“ ermittelt, wer was aus dem Regal nimmt.
Die Anzahl der im Laden verfügbaren Produkte variiere „je nach Tag und Woche“, heißt es bei Autonomo, liege allerdings „immer zwischen 550 und 650 verschiedenen Artikeln“. Es gibt loses Obst und Gemüse, Produkte bekannter Bio-Hersteller, bekannte Markenartikel, frische Backwaren von Zeit für Brot, Sandwiches und Bowls von Dean & David, Tapas von Neni und Sushi von Sushi Supply aus Hamburg.
Undurchsichtige Preisstrategie
Leider sorgen diverse Stolpereien dafür, dass sich das Einkaufsvergnügen letztlich doch in Grenzen hält.
Zum Beispiel wegen der völlig undurchsichtigen Preisstrategie: Während einige Produkte mit kleinem Aufschlag oder sogar zum regulären Supermarktpreis (Oatly Barista Haferdrink) verkauft werden, gibt es für andere massive Aufschläge: Eine Packung Kinder Riegel kostete zum Zeitpunkt meines Besuchs 90 Cent mehr als anderswo, die Lemonaid-Limo 80 Cent, eine Tafel Ritter Sport 50 Cent mehr – und wer dringend Öko-Windeln benötigt, wird bei Hoody ebenfalls fündig, zahlt aber auch ein Drittel mehr als im nächsten dm-Markt (+3 Euro). Das sind selbst für Kioske bzw. Spätis enorme Spannen.
Was daran liegen könnte, dass Hoody Preise nach Autonomo-Angaben dynamisch anpasst. COO Winner erklärt:
„Eine genaue Aussage, wie oft dies am Tag geschieht, möchten wir nicht veröffentlichen. Es ist jedoch abhängig vom Tag, der Uhrzeit und zum Beispiel dem Abverkauf von Produkten. Wir möchten jedoch explizit erwähnen, dass es nicht zwingend nur um Preisanpassungen nach oben geht, sondern auch nach unten, um beispielsweise Lebensmittelabfällen rechtzeitig vorzubeugen, indem die Preise frühzeitig angepasst werden.“
„Community Produkt“ und „Sonderpreis“
Das ist ein interessantes Experiment. Und wäre für mich definitiv Ausschlusskriterium, zum regelmäßigen Hoody-Kunden zu werden – weil ich z.B. keine Lust hätte, zu überlegen, wann der für mich monetär günstigste Tageszeitpunkt wäre, Bananen einzukaufen, die ich ohnehin erst im Laufe der Woche konsumieren würde.
Das noch am selben Tag ablaufende Süßkartoffel-Sandwich kostete bei meinem Einkauf im übrigen genauso viel wie ein frisch bei Dean & David zubereitetes – kann aber natürlich sein, dass da schon eine Reduktion im Vergleich zum vorherigen Hoody-Preis eingerechnet war.
Dazu kommt das Durcheinander aus rot gekennzeichneten „Community Produkten“ (von denen sich mir als Erstnutzer nicht erschloss, was die genau auszeichnet) und exakt genauso rot gekennzeichneten Artikeln zum „Sonderpreis“.
Vielleicht ist das der Eppendorfer Kernzielgruppe mit ihren überdurchschnittlich hohen Einkommen aber auch egal, weil da eh keiner draufschlug.
Die Kaffeemaschine ist abgebaut
Frisch gebrühten Kaffee gibt es – entgegen dem Versprechen in der App – leider nicht mehr: Die per App bedienbare Kaffeemaschine ist kommentarlos abgebaut worden, nur die Kaffebohnensackdeko des Partners Codos ist stehen geblieben. Ein Hinweis darauf, dass das Kaffee-Angebot nicht fortgeführt wird, war wohl schon zuviel Arbeit gewesen. Auf Anfrage erklärt Autonomo:
„Auch hier haben wir im Sinne der Community entschieden und verkaufen keinen CoffeetoGo mehr.“
Was wohl soviel bedeutet wie: Das Angebot wurde nicht in größerem Umfang genutzt.
Alles im Hamburger Hoody wirkt ein bisschen wie einmal hingestellt und jetzt halt notdürftig an die Variablen des Alltags angepasst. Und das mag in Ordnung sein, wenn der Laden künftig tatsächlich in erster Linie als „Showroom“ betrieben werden soll, damit interessierte Autonomo-Kund:innen die Technologie mal ausprobieren können.
Um dem ursprünglichen Anspruch gerecht zu werden, einen funktionierenden Nachbarschaftsmarkt für eine „Community“ zu etablieren, reicht das aber nicht.
Geringe Zahl an Reklamationen
Wobei die Übertragbarkeit der Erfahrungen aus einem Laden, der ausgerechnet in einem der schicksten und teuersten Stadtteile Hamburgs steht, ohnehin gegen null tendieren dürfte – sagen wir: z.B. für Gegenden, wo sich Kund:innen keinen abgepackten Mini-Sushi-Salat zu 15,49 Euro für 290 Gramm leisten wollen würden.
Details zum Einkaufsverhalten der Hoody-Kund:innen kommuniziert Autonomo auf Nachfrage ohnehin keine: Wieviele Kund:innen kommen regelmäßig wieder? Wie hoch ist der Durchschnitts-Bon? Wann ist die gefragteste Einkaufszeit? Sagt man nicht, ist ja auch okay.
So lässt sich aber nur schwer belegen, ob und wie die Nachbarschaft das Konzept tatsächlich angenommen hat.
Eine Zahl verrät Autonomo-COO Winner dann aber doch: Bon-Reklamationen beträfen bislang „deutlich weniger als 0,5% aller Einkäufe“, die Beschwerden würden alle selbst bearbeitet. Mit ihrer Einwilligung in die Datenschutzerklärung erlauben Hoody-Kund:innen allerdings auch die „Datenverarbeitung außerhalb der EU“, und zwar durch die (vermutliche Tochter) Autonomo Technologies India Pvt Ltd in Bangalore. Dazu heißt es in der Erklärung:
„In den meisten Fällen übernimmt der Auftragsverarbeiter die Bearbeitung von Kundensupportfällen. Wenn Sie z. B. eine Anfrage stellen oder reklamieren, dass wir Ihnen eine falsche Rechnung gestellt haben, erhält der Auftragsverarbeiter die entsprechenden Videoaufnahmen und bearbeitet Ihren Fall. Der Auftragsverarbeiter hat nur Zugriff auf einzelne Videosequenzen, die sich auf Ihre Anfrage beziehen, ansonsten hat der Auftragsverarbeiter keinen Zugriff auf die Videoaufzeichnungen oder andere personenbezogene Daten.“
Lokal, regional, auch egal?
Auf LinkedIn sucht Autonomo derzeit zudem einen „Quality Engineer“, der sich um die Weiterentwicklung der eigenen Retail-Tech-Plattform kümmern soll. Annoncierter Einsatzort: Indien.
Was leider ein klitzekleines bisschen schwierig ist, wenn der Chef des Start-ups gleichzeitig propagiert, man wolle „lokale Läden in die Nachbarschaft bringen mit regionalen Produkten für die Menschen vor Ort“ (Autonomo-CEO James Sutherland im NDR) – bloß halt: entwickelt und supportet von Angestellten aus Ländern mit sehr viel niedrigerem Lohnniveau?
Fakt ist: Hoody kann (bislang) nichts besser als andere Kassenlos-Technologien, die auf sehr viel umfassendere Live-Tests verweisen können, es gibt (bislang) keine anmeldefreie – z.B. mit regulären Kreditkarten nutzbare – Variante, und keine Aussagen zum Einsatz in Hybrid-Läden. Autonomo wird sich ganz schön anstrengend müssen, im Kassenlos-Wettrennen um die beste Kund:innerfahrung mithalten zu können.
Ein bisschen weniger großkotzige Ankündigungen und ein bisschen mehr Lust auf konsistente Nutzer:innenkommunikation könnten dabei schon helfen.
Nachtrag. 2. Mai: Via Autonomo-Pressemitteilung und „Handelsblatt“ (Abo-Text) hat Edeka-Kaufmann Jörg Meyer angekündigt, einen Markt auf Sylt mit der in Hamburg entwickelten Kassenlos-Technologie betreiben zu wollen.
So leer wie die Regale sind.. ist wohl eher ein Museum. Dazu Technik+Software im vierstelligen €-Bereich pro qm. Wenn das funktionieren würde..
Ich stelle mir die Frage, ob man das Konzept nicht besser im ländlichen Raum getestet hätte. In Hamburg gibt es doch fast rund um die Uhr ein (zu verläßlichen Preisen vorhandenes) Lebensmittelangebot. Ein Laden mit geringen Personal- und Raumkosten könnte doch dort gut funktionieren, wo andere Händler aus diesen Gründen aufgegeben haben (Stichwort Dorfladen).
Nach meinem Besuch im Hoodies musste ich eine Reklamation durchführen, was über die App unkompliziert war und anstandslos angenommen wurde.
Gewöhnungsbedürftig fand ich die pauschale Abrechnung von Obst und Gemüse. Für eine Möhre wurden einfach 50 gr. angesetzt. Lt. Mitarbeiterin sei das eben der Durchschnittswert.
PS: als ich da war, gab es die Kaffeemaschine noch, der Kaffee schmeckte gut. Schade.