Wenn Daten zur Währung werden: Was Brasiliens dWallet für den europäischen Einzelhandel bedeutet

Wenn Daten zur Währung werden: Was Brasiliens dWallet für den europäischen Einzelhandel bedeutet

Foto [M]: Jonathan Hefner/Smb
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Bürger:innen verkaufen ihre Daten direkt an Unternehmen, um sie zu Bargeld zu machen: Genau das testet Brasilien gerade mit dWallet. Muss das Experiment auch deutsche Supermärkte nervös machen? Oksana Lukyanenko fragt, ob Kund:innen in Zukunft noch Bonus-Punkte wollen, wenn andere Cash bieten.

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In Brasilien wird ein altes Prinzip neu gedacht: Daten gegen Vorteile nur diesmal mit Bargeld statt Payback-Punkten. Mit der sogenannten dWallet startet das Land ein Pilotprojekt, das Bürger:innen erlaubt, ihre digitalen Spuren, von App-Nutzung bis Einkaufsverhalten, aktiv zu verwalten, zu handeln und zu Geld zu machen. Nicht als Metapher, sondern buchstäblich: Wer seine Daten verkauft, sieht reales Geld auf dem Konto.

Dabei ist das Grundprinzip deutschen Kund:innen längst vertraut. Rewe Bonus, Lidl Plus und Payback funktionieren bereits nach dem Schema „Daten gegen Vergünstigungen“. Auch dort fließen inzwischen konkrete Rabatte in Euro und Cent, bei Lidl etwa sind personalisierte Angebote heute schon Alltag.

Der entscheidende Unterschied: In Brasilien wird daraus ein offener Marktplatz mit direkter Monetarisierung, staatlicher Infrastruktur und mehr Transparenz. Statt entweder privatwirtschaftlich oder staatlich gedacht, bringt das dWallet-Modell erstmals beide Seiten zusammen und hebt damit die Idee einer datenbasierten Ökonomie auf eine neue Ebene.

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Ein System, das den Einzelhandel unter Druck setzt

Das stellt auch die europäische Handelswelt vor eine neue Herausforderung: Was passiert, wenn nicht mehr die Supermärkte über die Kundendaten verfügen, sondern die Kund:innen selbst mit am Verhandlungstisch sitzen? Wenn die Kontrolle nicht über Cookie-Pop-ups und AGB-Kästchen läuft, sondern über bewusste Zustimmung, transparente Weitergabe und finanzielle Gegenleistung?

dWallet auf einen Blick
Abb.: Flaticon/Freepik

dWallet ist ein brasilianisches Pilotprojekt, das persönliche Daten erstmals wie Geld handelbar macht. In einer digitalen Brieftasche sammeln Nutzer:innen Informationen etwa zu Einkäufen oder App-Nutzung. Unternehmen bieten für den Zugang konkrete Beträge – bei Zustimmung fließt Geld aufs Konto. Entwickelt wurde das System von der US-Firma DrumWave mit lokalen Partnern. Seit dem Start 2022 läuft die Testphase mit rund 15 Unternehmen; eine landesweite Einführung steht noch aus.

In einem System wie dWallet entscheiden Menschen aktiv, wem sie welche Informationen geben und was sie dafür bekommen. Die Luft für klassische Treueprogramme wird damit dünner. Denn Punkte, Coupons und „exklusive Angebote“ sehen schnell alt aus, wenn anderswo bares Geld fließt.

Konkret gefragt: Wie könnte das in Deutschland aussehen?

Könnte ich künftig 50 Cent dafür bekommen, dass ich Lidl meine letzte Rossmann-Rechnung zeige? Zwei Euro, wenn ich mein Haushaltseinkommen preisgebe? Oder einen dauerhaften Rabatt bei Rewe, wenn ich meine Einkaufsdaten aus dem Biomarkt teile? Die technologische Grundlage dafür ist längst vorhanden, die Frage ist, ob der Handel darauf vorbereitet ist.


Was deutsche Händler jetzt tun könnten: Datennutzung konkret erklären, Opt-ins verständlicher gestalten, Datenwert transparent machen, bevor andere es für sie tun. Denn wer sich einmal bewusst fürs Teilen entschieden hat, gegen Geld oder Vorteile, wird beim nächsten App-Download nicht mehr so klaglos auf „akzeptieren“ drücken.

Natürlich bleibt es kompliziert

In Brasilien warnen Kritiker:innen bereits davor, dass vulnerable Gruppen ausgenutzt werden könnten, viele wissen gar nicht, worauf sie sich beim „Datenverkauf“ einlassen. Drei von zehn Brasilianer:innen haben Schwierigkeiten mit grundlegenden Lese- und Schreibfähigkeiten (Quelle: Instituto Paulo Montenegro). Das wirft eine zentrale Designfrage auf: Wie stellen wir sicher, dass Menschen mit eingeschränkter Literalität wirklich verstehen, was mit ihren Daten passiert? Die dWallet ist also nicht nur ein Fortschritt, sondern auch ein Risiko und ein Realitätscheck für alle, die glauben, Datensouveränität lasse sich einfach per App einführen.

Fazit: Wer das Vertrauen hat, hat die Zukunft

Trotz aller Risiken zeigt das Modell, wie die Zukunft aussehen könnte, auch in Europa. Die Vorstellung, dass Daten ein Gemeingut werden, über das Bürger:innen selbst bestimmen und das ihnen finanziell nützt, ist kein ferner Traum mehr. Sie ist Realität in einem Pilotprojekt, das die digitale Wirtschaft neu justieren will.

Und der Einzelhandel?

Die große Chance liegt darin, sich von der alten Cookie-Logik zu verabschieden. Wer jetzt schon zeigt, welche Daten er nutzt, warum und was sie wert sind, bereitet sich auf eine Zukunft vor, in der Kund:innen echte Alternativen haben. Nicht als Datenlieferanten, sondern als gleichwertige Partner. Vertrauen wird dann zur Währung, noch bevor es die Daten sind.

Über die Autorin

Oksana Lukyanenko war bis März 2025 Deutschland-Chefin des Lieferdienstes Wolt, den sie von der Restaurant-Bestellplattform zum Allround-Lieferdienst für Lebensmittel und Güter des täglichen Bedarfs weiterentwickelt hat. Zuvor war sie u.a. als VP International Markets bei Delivery Hero tätig und verantwortete als International Expansion Manager die Entwicklung des türkischen Delivery-Pioniers Yemeksepeti. Für das Supermarktblog analysiert sie aktuelle Entwicklungen im europäischen Lebensmitteleinzelhandel. Kontakt: LinkedIn.

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