Am vergangenen Donnerstag verriet Klaus Gehrig, Vorstandsvorsitzender der aus Lidl und Kaufland bestehenden Schwarz-Gruppe bei den – gnihihi – „Retail Innovation Days“ der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Heilbronn, warum er sich mit der Retail Innovation in der Regel viel, viel Zeit lässt.
Eigene Dienste für die Lebensmittellieferung habe er eingestellt, weil ihm die Kosten zu hoch gewesen seien, zitiert die „Wirtschaftswoche“ Gehrig. Zudem müsse man bei neuen Trends „nicht immer der erste sein“, das sei unnötig teuer und „da läuft uns nichts weg“.
Einen Tag darauf gab Marks & Spencer in London bekannt, was es kostet, nicht immer der erste zu sein zu müssen: 750 Millionen Pfund (875 Millionen Euro). Soviel lässt sich der Kaufhaus- und Lebensmittelkonzern den Einstieg in ein gemeinsames Joint-Venture mit dem Online-Supermarkt und Zukunftslogistiker Ocado kosten. Künftig betreiben M&S und Ocado das britische Liefergeschäft von Ocado gemeinsam; M&S stellt sein komplettes Sortiment und Kundendaten zur Verfügung und bekommt dafür Zugriff auf die etablierte Lieferlogistik. Obwohl die Vereinbarung aus vielerlei Gründen plausibel ist, hatten die Analysten erstmal was zu meckern:
„We think [M&S] is paying a high price which reflects it being very late to the [online] party“,
zitiert der „Guardian“ einen Analysten von RBC Europe. Anders formuliert: Weil M&S über viele Jahre gedacht hat, dem Unternehmen laufe schon nichts weg, wenn man erstmal abwartet, was die anderen im Online-Lebensmittelmarkt veranstalten, wird es jetzt teuer, noch den Anschluss zu kriegen.
Nun ist M&S gewiss nicht Lidl oder Kaufland, was den Handel mit Lebensmitteln betrifft operieren die Unternehmen in ihren jeweiligen Märkten eher an entgegengesetzten Enden.
Aber strategisch liegt ein Vergleich durchaus nahe: M&S hat sich über viele Jahre auf seine stationäre Präsenz konzentriert und geglaubt, mit weiterer Expansion seine Marktposition festigen zu können. Das Gegenteil war der Fall: Seit längerer Zeit häufen sich die Nachrichten über Filialschließungen in der Kaufhaussparte. Auch eine angekündigte Ausweitung reiner Food-to-Go-Läden wurde nur zögerlich umgesetzt.
Mit Verspätung stellt sich der Konzern jetzt doch noch der Online-Realität – und zahlt, anstatt zu sparen, ordentlich drauf bzw. überlässt das seinen Aktionären, die Dividenden gekürzt kriegen und Unternehmensanteile im Wert von 600 Millionen Pfund kaufen sollen, um den Deal zu finanzieren.
(Während sich die Schwarz-Gruppe in Deutschland darauf freut, ein Heidengeld für einen Schwung heruntergekommener Real-Märkte auszugeben, um dann noch einmal Millionen in deren Umrüstung auf den aktuellen Kaufland-Standard zu investieren.)
Der Zusammenschluss von M&S und Ocado ist noch in vielerlei anderer Hinsicht interessant (auch aus deutscher Perspektive, gleich mehr dazu).
Das Wocheneinkauf-Dilemma
Zunächst einmal ist das Joint-Venture von beiden Seiten benötigter Anker in einem Markt, der durch zunehmende Konzentration und gleichzeitig große Unsicherheit geprägt ist. Zum einen, weil niemand so genau weiß, wie sich der Brexit – in welcher Firm auch immer – mittelfristig auf Warenverfügbarkeit und Konsumlaune der britischen Verbraucher auswirken wird. Zum anderen, weil die angekündigte Großübernahme der Walmart-Tochter Asda durch Sainsbury’s (siehe Supermarktblog) momentan genehmigungsrechtlich auf sehr wackeligen Füßen steht.
Um mit seinem Food-Geschäft nicht zunehmend in die Nische abgedrängt zu werden, braucht M&S einen Partner wie Ocado, der dem Unternehmen neue Zielgruppen und Kaufroutinen erschließt. Ocado wiederum dürfte stark von einer etablierten Marke wie M&S profitieren, die für hohe Innovation und Qualität steht, und für die Verbraucher bereit sind, Geld auszugeben.
(Das Technologie-Geschäft unter dem Namen Ocado Solutions, über das die Briten wichtige Lizenzdeals mit Kroger’s in den USA, Sobey’s in Kanada, ICA in Schweden und Casino in Frankreich vereinbart haben, wird in der Gruppe unabhängig vom Retail-Geschäft weiterbetrieben.)
M&S-CEO Steve Rowe ließ sich in der vergangenen Woche mit der Einschätzung zitieren, dass es der Zusammenschluss mit Ocado seinem Unternehmen ermögliche, sein Lebensmittelsortiment in einer Weise online verfügbar zu machen, die „sofort profitabel, skalierbar und nachhaltig“ sei. Kunden können ab September 2020 – so lange ist Ocado (vorerst) noch an eine Exklusivvereinbarung mit dem Wettbewerber Waitrose gebunden – auf das komplette M&S-Sortiment zugreifen und die Eigenmarken-Produkte in ihren wöchentlichen Einkauf integrieren.
Damit löst M&S ein wichtiges Dilemma: Einen eigenständigen Lieferdienst aufzubauen wäre schon deshalb schwer gewesen, weil das eigene Sortiment nur rund 7.000 Artikel umfasst und nur eingeschränkt für einen kompletten Wocheneinkauf geeignet wäre – im Gegensatz zu rund 50.000 Artikeln, die Ocado seinen Kunden anbietet.
Im Laden geben M&S-Kunden im Schnitt 13 Pfund pro Einkauf aus, vor allem für Sofortessen und Snacks. Bei Ocado sind es rund 100 Pfund pro Bestellung.
Es wird hochinteressant zu beobachten sein, wie die Partner diese beiden Welten miteinander verschmelzen (mehr dazu im Laufe der Woche auch bei holyEATS).
Polarisierung im britischen LEH
Wenn die derzeitige Entwicklung sich so fortsetzt, dürfte der britische Lebensmitteleinzelhandel künftig stark polarisiert sein, beherrscht vor allem von den Konzerntankern Tesco und (falls erlaubt) Sainsbury’s/Asda mit riesigen Filialnetzen, breit aufgestellt nicht nur im Food-Sortiment (z.B. mit Argos, Habitat, Booker), und zugleich mit ernsthaften Online-Ambitionen. Wer daneben Platz finden will, muss hochspezialisiert sein und sein Angebot exzellent beherrschen – was auf M&S/Ocado genauso zuträfe wie auf die Discount-Spezialisten Aldi und Lidl. Alle, die irgendwie dazwischen hängen, werden es schwerer haben.
Was also passiert mit Morrisons? Das wäre bei einer erfolgreichen Asda-Einverleibung durch Sainsbury’s zwar noch Nummer drei im Markt, allerdings mit gigantischem Abstand zur neuen Nummer zwei Tesco – ohne auch nur annähernd über dieselben Ressourcen zu verfügen, um online oder stationär die für die Zukunft notwendigen Investitionen aufzubringen. Auch deshalb gilt Morrisons seit längerem als potenzieller Übernahmekandidat für Amazon, das schon jetzt bei PrimeNow und Fresh Zugriff auf die Eigenmarke der Handelskette hat.
Sowohl was Zustand, Struktur und Lage der Filialen betrifft, wäre die Handelskette für Amazon aber nur eine Notlösung. Aus schummerigen SB-Warenhäusern am Rande der Stadt schicke Whole-Foods-Filialen mit urbaner Bio-Klientel zu zaubern, wäre eine enorme Herausforderung.
Schafft’s Waitrose auch alleine?
Deckungsgleicher mit den bisher von Amazon im Lebensmitteleinzelhandel verfolgten Zielen wäre hingegen Waitrose, das sich schon jetzt in vielerlei Hinsicht an ein ähnliches Klientel wie Whole Foods wendet – und für eine deutlich stadtnähere Versorgung steht. Ab kommenden Jahr, wenn die Vereinbarung mit Ocado endet, ist Waitrose online komplett auf sich gestellt. Und könnte aus Amazon-Sicht endgültig ein hochinteressanter Partner für einen großflächigen Einstieg in den britischen LEH sei – wäre da nicht das klitzekleine Hindernis, dass Waitrose zum Kaufhauskonzern John Lewis gehört, mit dessen Häusern zahlreiche Supermarktfilialen eng verschmolzen sind.
Würde Amazon zur Durchsetzung seiner Ambitionen so weit gehen, auch Kaufhausbetreiber zu werden? Vielleicht darf man angesichts der aktuellen Meldung des „Wall Street Journal“, Amazon wolle in den USA noch eine zweite Supermarktkette jenseits von Whole Foods an den Start bringen, derzeit nichts ausschließen.
Fest steht nur: Eine konsistente Strategie für die erklärte Eroberung des Markts scheint man derzeit in Seattle nicht zu haben. (Oder sie ist sehr, sehr ausgefeilt und deswegen undurchschaubar.)
Zeit für neue Allianzen
Was kann der deutsche Lebensmitteleinzelhandel von alldem lernen – außer der Tatsache, dass man schon sehr viel Gottvertrauen haben muss, um zu glauben, man könne die Zukunft erstmal weglaufen lassen, um sie später dann wieder einzufangen und dabei auch noch Geld zu sparen?
- Dass alle, die ihre Existenz in einem zunehmend zur Konsolidierung neigenden Markt absichern wollen, womöglich auch hierzulande stärker über neue Allianzen nachdenken müssen.
- Dass es nur eine begrenzte Anzahl an Schollen gibt, auf denen es sich gut schwimmen lässt, wenn außenherum die großen Tanker Wellen schlagen.
- Vor allem aber, dass dem Lebensmitteleinzelhandel – egal, in welchem Land – ein paar ziemlich aufregende Jahre bevorstehen.
Mehr Gedanken zum Thema stehen nebenan bei Exciting Commerce und (im Laufe der Woche) in der nächsten holyEATS-Ausgabe. Die Kollegen von Etailment haben sich derweil ebenfalls mit den Prognosen von Klaus Gehrig auseinandergesetzt (samt Rittervergleich!).
Fotos: Supermarktblog
Der Gedanke, der mir bei all dem kommt ist, ob denn die vollautomatischen Amazonen-Läden sinnvoll sind, wenn das prognostizierte Endziel doch die Lieferdienste sind? Wenn ich einkaufen als lästige Zeitverschwendung ansehe, lasse ich mich doch lieber beliefern, als überhaupt einen Laden zu betreten, selbst wenn der dann ohne Kassen auskommt, ich aber immer noch Gefahr laufe, Zeit mit Diskussionen zu verschwenden, weil die Automatik falsch abbucht. Die ergänzende Alternative ist dann der Stöber-Erlebnis-Einkauf, den ich aber bestimmt nicht in einem Kaufland/Grabbeltisch-real machen möchte, sondern dann eben in einer Markthalle Krefeld, Edeka Zurheide, Jumbo NL oder Rewe München Hbf Nord Arnulfstraße (alle hier im Blog früher beschrieben).
Herr Gehrig sollte vielleicht nochmal in sein eigenes Führungsleitbild schauen, wo es heißt „Wer aufhört besser zu werden, hört auf, gut zu sein“.
Oder wie Jim Sterling immer wieder sagt: „Market leaders lead, they don’t follow. That’s why they’re called market leaders and not market followers.“
Was war eigentlich die letzte große Innovation im LEH, bei der Lidl vorneweg marschiert ist?
Lidl baut jedenfalls noch die Paläste und hat dafür in Deutschland weitgehend ein Monopol. Zuletzt z.B. in Ismaning an der Stelle einer abgerissenen auch schon großen und nicht schlecht erhaltenen Filiale. Der aktuelle Typ wirkt optisch etwas weniger protzig als die Glaspaläste davor, ist aber in der Substanz fast identisch dazu. Die neuen innerstädtischen Typen, die jetzt wohl größer ausgerollt werden, sollen wohl (im Gegensatz zu denen von Aldi Süd) auch palastartig werden.