Ein Missverständnis namens Mindesthaltbarkeitsdatum

Ein Missverständnis namens Mindesthaltbarkeitsdatum

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Nach den fantastischen Erklärerfolgen der Unterschiede zwischen „Hier“ und „Da“ sowie dem Klassiker „Langsam“ und „Schnell“ wird es allerhöchste Zeit für eine Sesamstraßen-Kampagne, die den heranwachsenden Supermarktkunden von morgen erklärt, was eigentlich „mindestens“ von „höchstens“ unterscheidet. Damit die das anschließend gleich ihren Eltern erklären können. Denn die wissen’s ja meistens auch nicht.

Die Konsequenzen dieser Unkenntnis wiegen allein in Deutschland ungefähr 20 Millionen Tonnen pro Jahr und landen in großen Eimern oder Containern, um entsorgt zu werden.

Es geht, Sie ahnen es, um Lebensmittel. Über deren ungeheure Verschwendung hat der Filmautor Valentin Thurn eine äußerst sehenswerte Dokumentation gedreht, die gerade in den Kinos läuft (und in einer kürzeren Ursprungsversion bereits im vergangenen Jahr während der Themenwoche „Essen ist leben“ im Ersten gezeigt wurde).

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Die Bilder, die Thurn in „Taste the Waste“ zeigt, sind ein Schock: haufenweise Gemüse, Brot, Fisch und tadellos verpackte andere Lebensmittel, die keiner mehr haben will. Und die Gründe dafür sind vielfältig. Manches entspricht von Anfang an nicht den Normen, die sich der Handel ausgedacht hat. Gurken werden sofort nach der Produktion entsorgt, weil sie zu krumm sind, um ordentlich in die Transportkisten zu passen. Tomaten müssen ein spezielles Rot haben, sonst werden sie erst gar nicht verladen. Weil viele Kunden im Markt absolute Makellosigkeit erwarten. (Im NDR lief neulich dazu ein ebenfalls sehenswerter Beitrag über Standards bei Äpfeln.)

Andere Lebensmittel werden erst noch tausende Kilometer weit transportiert, bevor sie weggeworfen werden. Weil wir sie nicht rechtzeitig gekauft haben.

„Tagesware wie Salat oder Radieschen wird morgens ins Regal sortiert und abends wieder rausgenommen – egal, in welchem Zustand die Ware ist“, sagt Thurn. Und mit „rausgenommen“ meint er: weggeworfen. Trotzdem sind die Regale im Supermarkt immer voll, weil die Kunden auch kurz vor Ladenschluss gerne die volle Auswahl haben. Thurn erklärt: „Es ist für die Handelsketten schlimmer, wenn ein Kunde im Markt umkehrt, weil er sein Lieblingsjoghurt nicht mehr kriegt und zur Konkurrenz geht, als Waren zu vernichten.“

Das allein ist schon zum Heulen. Aber dass ein großer Teil der weggeworfenen Lebensmittel eigentlich bloß wegen eines Missverständnisses im Müll landet, ist ein Skandal. Und schuld ist – das Mindesthaltbarkeitsdatum.

Wenn das Datum auf dem Joghurtbecher, der im Kühlschrank steht, überschritten ist, wird er entsorgt. Dasselbe passiert im Laden – nur schon viel früher, weil kaum jemand Produkte kaufen mag, die scheinbar bald ablaufen. (Und weil die Haftung mit überschrittenem Datum vom Hersteller auf den Supermarkt übergeht, der kein unnötiges Risiko eingehen möchte.)

Dabei bedeutet ein überschrittenes Mindesthaltbarkeitsdatum noch lange nicht, dass der Joghurt nicht mehr genießbar wäre. Die Angabe ist bloß die Garantie des Herstellers, dass bis zu diesem Zeitpunkt alle Eigenschaften des Produkts (zum Beispiel die Cremigkeit) gewährleistet sind. Wer minimale Cremigkeits-Abstriche in Kauf nimmt, kann den Becher auch noch Tage später auslöffeln. Wenn er vorher die Anstrengung in Kauf nimmt, die Folie abzuziehen und höchstpersönlich zu testen, ob der Joghurt noch gut ist. Riechen und schmecken nennt man das. Irgendwie müssen wir das verlernt haben.

Das Problem ist: Bei manchen Produkten ist das Haltbarkeitsdatum dann doch unbedingt einzuhalten, bei Eiern zum Beispiel, bei Fisch und Fleisch. Weil uns das unser Magen sonst nämlich nicht verzeiht.

„Es kann doch kein Mensch unterscheiden zwischen dem Verbrauchsdatum, nach dem der Konsum von frischen Lebensmitteln wirklich der Gesundheit schadet, und der Mindesthaltbarkeit“, sagt Filmemacher Thurn – und schlägt vor, das Mindesthaltbarkeitsdatum umzubenennen. Da die meisten Leute die Bedeutung des „Mindest-“ immerzu mit dem Gegenteil verwechseln, ist das keine schlechte Idee. Im Englischen steht auf den Produkten zum Beispiel viel klarer: „best before“. Vielleicht fällt jemandem eine elegante Übersetzung ein?

Auf die Frage, wann Produkte aus dem Regal genommen werden, deren Haltbarkeitsdatum bald abläuft, gibt es von den Unternehmen auf Anfrage keine konkreten Antworten. Eine Edeka-Sprecherin erklärt, es existierten „unterschiedliche Empfehlungen, die je nach Produkt (Konserve vs. Frische-Produkte) variieren“ – jedoch ohne sie zu benennen. „Die letzte Entscheidung, wann ein Produkt vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums aus dem Verkauf genommen wird, liegt jedoch bei den Einzelhändlern.“

Schon jetzt geht auch nicht automatisch alles in den Müll, was nicht verkauft wird. Handelsketten wie Aldi und Edeka arbeiten mit den „Tafeln“ zusammen, die verwertbare Lebensmittel an Leute geben, die sich keinen Großeinkauf im Laden leisten können.

Aldi verweist aber auch auf „gesetzliche Vorschriften“, wegen denen „lediglich zum Verzehr geeignete Lebensmittel abgegeben werden“. Aldi-Sprecherin Kirsten Windhorn erklärt: „Dabei spielen Kriterien wie beispielsweise die Einhaltung der Kühlkette oder die Abgabe unter Beachtung der Restlaufzeit des Mindesthaltbarkeitsdatums eine Rolle“.

Um aber die massive Verschwendung von Lebensmitteln zu vermeiden, müssten die Supermärkte komplett umdenken und auch mal riskieren, ihre Kunden zu enttäuschen, wenn ein Regal kurz vor Ladenschluss leer ist. Das fällt Unternehmen, die mit harter Konkurrenz zu kämpfen haben und auf Profit ausgerichtet sind, schwer. (Genauso wie uns als Verbrauchern.) Aber nach der Medienaufmerksamkeit für „Taste the Waste“ hätten einige Ketten bereits signalisiert, gegensteuern zu wollen, sagt Thurn. Mit welchen Mitteln und in welchem Zeitraum ist noch völlig unklar.

Thurn erklärt aber auch: „Der Handel reagiert nur, wenn es eine Sensibilität für das Thema gibt.“ Und zwar bei denen, die nachher an der Kasse stehen: bei uns. Das scheint gerade zu passieren. Zumindest tourt Thurn mit seinem Film durchs ganze Land, ist bei Vorführungen in den unterschiedlichsten Städten dabei, diskutiert im Radio, bei Podiumsveranstaltungen und gibt Interviews. Er sagt: „Das Thema scheint bei den Leuten einen Nerv getroffen zu haben. Einer der Kinozuschauer hat mir nach der Vorführung gesagt: ‚Man fühlt sich ertappt‘.“

Anstatt sich ertappt zu fühlen: Wollen Sie nicht einfach zuhause mal in den Kühlschrank schauen und überlegen, ob es sich lohnt, aus den Gemüseresten ein schönes Süppchen zu kochen?

Vielleicht haben Sie Lust, danach noch ins Kino zu gehen.

Zum Film ist das Buch „Die Essensvernichter“ erschienen (siehe dazu auch FAZ.NET). Und noch mehr zum Thema steht im nächsten Supermarktblog-Eintrag.

Screenshots: Das Erste/Thurnfilm

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