Am 12. August eröffnete die britische Supermarktkette Tesco in Watford, rund 30 Kilometer nördlich von London, einen ihrer großen Extra-Stores neu. Da Sie vermutlich nicht in der Nähe wohnen, glauben Sie vielleicht, das sei nicht weiter relevant. Und denselben Ärger wie neulich, als auf Supermarktblog-Initiative die Mittagspause etwas länger ausfiel, will ja auch niemand zweimal haben.
Macht nichts, der Tesco Extra, um den es in diesem Eintrag geht, ist praktischerweise komplett bei Google zu besichtigen.
Auf den ersten Blick sieht alles aus wie im ganz normalen Supermarkt. Oder sagen wir: fast. Die Watford-Filiale ist nach dem Umbau ein bisschen schicker als andere Läden des Konzerns, der im vergangenen Jahr international zwar satte Gewinne machte, aber in Großbritannien Rückgänge verkraften musste. Tesco-CEO Philip Clarke hat deshalb ein Programm unter dem Titel „Building a better Tesco“ angekündigt – und will dafür eine Milliarde Pfund in Neueröffnungen, Mitarbeitertraining und Produktverbesserungen investieren. Im Jahresbericht für 2012 schrieb Clarke:
„Tesco wird in Zukunft innovativer und kreativer agieren, weil wir uns den Bedürfnissen der Konsumenten besser anpassen wollen – sowohl im Laden als auch online.“
Wie drastisch die Änderungen sein könnten, hat er nicht dazu gesagt.
Der Extra-Store in Watford ist ein Testmarkt, sagt Tony Hoggett, der im Unternehmen für die riesigen SB-Warenhäuser zuständig ist, von denen kaum noch neue eröffnet werden sollen, weil die Kunden sich angewöhnt haben, wieder in der Nähe ihres Wohnorts einzukaufen. Und online. Dem britischen Fachmagazin „The Grocer“ sagte Hoggett:
„Dies ist eine Version eines Markts der Zukunft [wie Tesco ihn sich vorstellt].“
In dieser Zukunft geht es längst nicht mehr nur darum, Lebensmittel einzukaufen. Sondern vielmehr darum, sich darauf einzustellen, dass ein großer Teil des Lebensmitteleinkaufs online passieren könnte. Damit die stationären Läden nicht überflüssig werden, müssen sie sich ändern, glaubt Tesco. Und zu einer Mischung aus Einkaufscenter und Freizeitort werden.
Wie ernst es dem Konzern damit ist, kündigte sich bereits im März an, als öffentlich wurde, dass Tesco die hippe britische Restaurantkette Giraffe übernimmt. Eine ebensolche Filiale schmückt nun den Eingangsbereich des neuen Tesco Extra in Watford (Menü-Überblick gewünscht?). In den Laden integriert sind außerdem: ein Shop der Kaffeekette Harris + Hoole, ebenfalls von Tesco übernommen, sowie die Bäckerkonzepte Euphorium und The Bakery Project. (Mehr dazu demnächst.) In einem „City Kitchen“ können Kunden sich außerdem ihr eigenes Sofortessen kombinieren.
Tescos Klamotten-Eigenmarke F&F ist im Boutique-Stil mitten in den Markt gepflanzt. Haushaltswaren werden im Butlers-Stil präsentiert. Es gibt eine Apotheke mit separatem Beratungszimmer, einen Optiker, der kostenlose Sehtests anbietet, eine „Tesco Loves Baby“-Ecke, einen Bereich, in dem man für 5 Pfund eine Schönheitsbehandlung kriegt, und einen „community space“ – eine Fläche also, die für Koch- und Yoga-Kurse genutzt werden soll und von Vereinen aus Watford kostenlos für eigene Veranstaltungen angemietet werden kann.
Falls Sie sich oben nicht selbst durchklicken wollen: Bei der britischen „Retail Week“ gibt es dazu ein kurzes Video anzuschauen.
Es mag auf den ersten Blick so aussehen, also ob Tesco mit seinem neuen Extra-Konzept stark in die Richtung eines Kaufhauskonzepts rückt – ausgerechnet während in Deutschland mit dem Schlingerkurs von Karstadt und der ungewissen Zukunft für Kaufhof eben dieses in Frage gestellt wird. Ganz richtig ist das aber nicht – denn der Schwerpunkt sind mehr als je zuvor: Lebensmittel. Nur sehr unterschiedlich präsentiert.
Chris Bush, Managing Director für Großbritannien, ist davon überzeugt, dass Supermärkte zukünftig „Orte sein [müssen], an denen die Kunden ihre Freizeit verbringen und sich mit Freunden und der Familie treffen“. Ein bisschen wie die großen Shopping-Malls in den USA.
Gründe, es zu versuchen, gibt es viele:
- Tesco hofft auf den Ikea-Effekt. Viele Kunden besuchen die Möbelhauskette längst nicht nur, um neuen, unnützen Ramsch für ihre Wohnungen zu besorgen, sondern auch für ein (vermeintlich) günstiges Frühstück im Ikea-eigenen Restaurant. Bestenfalls bleiben die Kunden deswegen länger im Laden. Und kaufen mehr.
- Darüber hinaus belegen Restaurants und Cafés einen Teil der bisherigen Verkaufsfläche , um die Tesco seine übergroßen Extra-Stores sowieso verkleinern will. (Bei uns verkleinert z.B. Real einige seiner Läden, vermietet die Flächen allerdings an unabhängige Anbieter.)
Aus deutscher Sicht klingt das trotzdem komisch: Die meisten Kunden sind hierzulande froh, wenn sie den lästigen Lebensmittel-Einkauf und das Schlangestehen an der Kasse hinter sich gebracht haben. Rewe wagt mit seinem Bistro-Test in Köln, „Made by Rewe“, gerade einen ersten Versuch, sich selbst neu zu definieren.
In Großbritannien ist die Ausgangssituation allerdings eine andere. Mit Online-Bestellungen macht Tesco schon seit einer Weile stark steigende Umsätze. Die Briten sind sehr viel mehr daran gewöhnt, sich Dinge des täglichen Gebrauchs an die Haustür liefern zu lassen. In London saust in diesen Tagen ein Liefertransporter nach dem nächsten über die Straßen.
Wer oft online bestellt, muss natürlich seltener in den Laden – und hat kaum noch einen Grund, eines der riesigen SB-Warenhäuser aufzusuchen. Es sei denn, die blicken über ihren bisherigen Kühltruhenrand hinaus. Watford ist der Test, ob das funktioniert. Tesco-Manager Bush sagt:
„[Der Laden] repräsentiert einen grundlegenden Wandel in der Art, wie die Menschen ihre Einkäufe erledigen. Immer mehr Kunden gehen einkaufen, um sich die Zeit zu vertreiben; sie wollen nach Klamotten stöbern, was essen oder einen Kaffee trinken, während sie ihre Besorgungen erledigen. Das ermöglicht uns einen Blick darauf, wie Läden in Zukunft aussehen könnten (…).“
Die Tesco-Idee mag in vielerlei Grundsätzen dem widersprechen, wie deutsche Händler das Einkaufserlebnis ihrer Kunden zu verbessern versuchen. Aber sie ist nah dran an dem, wie auch wir inzwischen große Shoppingcenter mit Gastro-Angeboten nutzen. Wenn sie funktioniert, könnten sich die britischen Supermärkte in kürzester Zeit radikal wandeln.
Fotos: Supermarktblog; Multimedia: Google, retail-week.com
Ist ja schick, den Tesco virtuell begehen zu können. Mir fehlt nur noch der Duft: Britische Supermärkte riechen anders. Ich kann nicht so recht beschreiben, wonach – süßlicher? – und könnte auf Anhieb nicht zwischen Tesco und Sainsburys unterscheiden, aber da gibt’s auf jeden Fall eine Art olfaktorischen Nationalcharakter
Das erinnert mich ein bisschen an Einkaufszentren in Brasilien, Bundesstaat Sao Paule. Dort finden sich zuweilen auch die meisten schicken Restaurants, Discos, Kinos etc. pp. Jungen gehen ins Einkaufszentrum, um Chicas zu schauen.
Ein zentraler Grund: Die Kriminalität ist so hoch, dass man sich abends nicht in die Innenstadt wagt oder auch in viele Stadtviertel. Aber die Einkaufszentren sind sicher, da es Wachschutz und Einlasskontrollen gibt. So werden Einkaufszentren so sozialen Treffpunkten.
Ob das in Großbritannien funktioniert, so lange die Sicherheitslage nicht Sao Paolo ähnelt, wage ich allerdings zu bezweifeln.