Vor kurzem hat die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) eine erstaunliche Begründung dafür geliefert, warum das mit dem Online-Einkauf frischer Lebensmittel unmöglich funktionieren kann; weil sie „umständlicher als der schnelle stationäre Einkauf in der Nachbarschaft“ sei (per PDF, natürlich).
„Bevor man sich am Computer oder per Tablet durch die Produktlisten geklickt hat und dann (…) auch noch eine zumeist kostenpflichtige Terminlieferung vereinbart (…), geht der (Innen-)Stadtbewohner doch lieber schnell einmal vor die Tür und erledigt seine Einkäufe um die Ecke.“
Ich hab’s dem Rewe-Lieferservice-Fahrer, der gerade täglich mindestens einmal in unserer Straße hält, um an den Türen besagter Innenstadtbewohner zu klingeln, ausgerichtet – und der hat herzlich lachen müssen.
Nein, im Ernst: Dass die GfK davon ausgeht, „die Kern-Klientel Stadtbewohner“ benötige „keinen kompletten Supermarkt im Internet als Vertriebskanal“, ist nicht nur deshalb kurios, weil die Marktforscher dazu keine Daten vorgelegt haben, die diese Vermutung konkret belegen könnten. Sondern auch, weil eine solche Spekulation massig Gründe außen vor lässt, weswegen die Wachstumsrate für im Netz bestellte Lebensmittel derzeit nicht explodiert, sondern bloß stetig wächst.
Einer, der (eigentlich auch für professionelle Marktforscher) am naheliegendsten ist, lautet: Weil es gar nicht die eine „Kernzielgruppe“ gibt.
Im Gegenteil: Für Händler ist es harte Arbeit, herauszufinden, in welchen Kundengruppen sie welche Erwartungen bedienen müssen, um online erfolgreich zu sein.
Wie unterschiedlich das ausfallen kann, ließ sich am Mittwoch ganz hervorragend auf der diesjährigen K5 Berlin verfolgen. Am Vormittag stand zunächst Frederic Knaudt, Deutschland-Geschäftsführer von Picnic, auf der Bühne und erklärte, wie wichtig in der App des niederländischen Liefer-Start-ups die Möglichkeit sei, per Lokalisierung auf der Umgebungskarte zu verfolgen, wann das Elektromobil mit dem bestellten Einkauf vor der eigenen Tür ankomme.
Wo ist mein Lieferfahrer gerade?
In den Niederlanden hat Picnic die Erfahrung gemacht, dass die Kunden dann passgenau mit dem Fahrer zuhause eintreffen, anstatt dort unnötig zu warten bis es klingelt.
Direkt im Anschluss folgte Philippe Huwyler, Geschäftsführer des Schweizer Lebensmittel-Lieferdiensts Coop@Home, und erklärte, warum Coop-Kunden in der App nicht sehen können, wo sich der Lieferfahrer gerade genau befindet: Weil sie dann im Zweifel anrufen, um zu fragen, ob sie ihren Einkauf vorzeitig an der nächsten Straßenecke abholen können; oder warum die Tour nicht direkt zu ihren Haus verläuft, sondern erst durch die Straße in der Nachbarschaft führe; und weil das für ein ziemliches Durcheinander sorgen kann.
Das Beispiel zeigt im Kleinen ganz schön, dass sich über eine vermeintliche „Kern-Klientel“ im Online-Lebensmittelhandel kein fertiger Standardservice stülpen lässt. Die Lieferung frischer Lebensmittel ist eher ein Prozess, mit dessen Gestaltung sich viele Unternehmen zweifellos schwer tun.
Umso interessanter sind die Unterschiede, die zwischen einem (in der Schweiz) etablierten Dienst wie Coop@Home und einem sich (in den Niederlanden) etablierenden System wie Picnic existieren.
Online-Kunden sind verschieden
Coop@Home-Chef Huwyler berichtete in Berlin, dass die durchschnittliche Bestellsumme seiner Kunden bei 230 Schweizer Franken liege (rund 200 Euro) – davon können Händler in anderen europäischen Ländern bloß träumen. Ebenso wie von der Akzeptanz, dass für einen solchen Service Lieferkosten selbstverständlich sind.
Und zwar nicht zu knapp: Wer für unter 100 CHF bestellt, zahlt happige 17,90 CHF Versandgebühren; ab 200 CHF sinkt der Wert auf immerhin 9,90 CHF (8,50 Euro). Der Mindestbestellwert liegt bei 90 CHF. Klar, dass es sich da lohnt, viel zu bestellen. (Aber vielleicht halt nicht: oft.)
Dafür ist Coop@Home schnell: In vielen Regionen, wo eigene Kühlfahrzeuge zum Einsatz kommen, funktioniert die Lieferung am selben Tag innerhalb weniger Stunden. Inklusive Frischfleisch vom „Online-Metzger“, bei dem der Kunde während der Bestellung Grammzahl, Schnittbreite und Marinade selbst bestimmen kann. Anfang des Jahres hatte Coop@Home ein Umsatzwachstum von 10,5 Prozent gemeldet.
Picnic setzt mit seinem Modell einen völlig anderen Schwerpunkt (siehe Supermarktblog): Lieferungen sind generell kostenfrei, der Mindestbestellwert liegt bei 25 Euro, dafür ist die Auswahl der Zeitfenster stark begrenzt, um feste Touren planen zu können. Klar, dass es sich da lohnt, oft zu bestellen. (Aber vielleicht halt nicht: viel.)
Mehr Regionales ins Sortiment
In Berlin erklärte Deutschland-Chef Knaudt, dass im bisherigen Liefergebiet um die nordrhein-westfälischen Städte Kaarst und Neuss inzwischen zehn Prozent aller Haushalte die Picnic-App heruntergeladen bzw. sich für den Dienst registriert hätten (aber nicht, wieviele davon auch schon bestellt haben).
Auf Wunsch der Besteller seien bereits mehr regionale Artikel ins Sortiment aufgenommen worden; zudem wurden Plastiktüten durch Bioplastik auf Zuckerrohrbasis ersetzt, die bei der nächsten Lieferung mitgenommen und anschließend im wiederverwertet würden.
Zumindest in der Testphase hat die Kooperation mit den Kunden nach Supermarktblog-Informationen aber nicht ganz so harmonisch funktioniert, wie das Unternehmen es gerne darstellt: Als Picnic unter dem Tarnnamen „Sprinter“ loslegte (siehe Supermarktblog), mussten Neukunden Verschwiegenheitserklärungen unterschreiben, in denen sie bestätigten, nicht mit Journalisten über ihre Teilnahme zu sprechen.
Manch einer beklagt, er habe die Erklärung direkt nach der Unterschrift wieder abgeben müssen, ohne eine Kopie zu erhalten. Wer mit dem Smartphone Fotos machen wollte, sei ermahnt worden. Viele Tester wussten nachher gar nicht so genau, was sie eigentlich unterschrieben hatten – ein zweifelhaftes Vorgehen für ein Unternehmen, das die vertrauensvolle Kundenbeziehung so sehr in den Mittelpunkt stellt.
„NRW wird noch für eine Weile
unser Fokus sein.“
Picnic-Deutschland-Geschäftsführer Frederic Knaudt
Zur Expansion äußert sich Picnic nach der verfrühten Bekanntgabe des Deutschland-Starts äußerst vorsichtig. Auf der K5 erklärte Knaudt:
„Unser Prinzip ist: Lieber erreichen wir dort, wo wir sind, eine hohe Penetration, als in vielen Städten präsent zu sein, aber nur mit wenigen Kunden.“
(Andernfalls würde das Picnic-Modell mit den festgelegten Routen auch gar nicht funktionieren; Rewe ist bei der Ausweitung seines Lieferdiensts völlig anders vorgegangen.)
Neue Städte schalte man – auch im Heimatmarkt – erst dann auf, wenn sich dort ein bestimmter Prozentsatz interessierter Kunden bereits vorab registriert habe. „Zwei bis drei“ neue Liefergebiete sollen in diesem Jahr in Deutschland hinzukommen. Von K5-Gründer Jochen Krisch auf die weiteren Pläne des deutschen Picnic-Ablegers angesprochen, sagte Knaudt:
„Unser Zeithorizont für die Planung beschränkt sich aktuell auf drei Monate. NRW wird noch für eine Weile unser Fokus sein.“
Die Frage ist, ob es überhaupt zu einer Expansion außerhalb Nordrhein-Westfalens kommt. Um deutsche Kunden auch mit günstigen Eigenmarken versorgen zu können, hat sich Picnic mit der Edeka-Regionalgesellschaft Rhein-Ruhr zusammengetan, die u.a. „Gut & Günstig“- und „Edeka“-Artikel zur Verfügung stellt.
Hält Edeka Picnic in Rhein-Ruhr?
Edeka Rhein-Ruhr hält laut „Lebensmittel Zeitung“ (Paywall) rund 20 Prozent am deutschen Picnic. Und dürfte sich – unabhängig vom möglichen Erfolg – ziemlich schwer tun, einer angrenzenden Regionalgesellschaft (Minden-Hannover, Hessenring, Südwest) in deren Hoheitsgebiet in die Quere zu kommen. Selbst wenn das nur online geschähe.
Mag also sein, dass Picnic innerhalb der Rhein-Ruhr-Region munter neue Städte erobern kann. Aber hinter Bielefeld, Paderborn und unterhalb von Bonn dürfte ziemlich schnell Schluss damit sein. Es sei denn, Picnic erweist sich für Edeka als derart nachhaltige Lösung, dass es zu einer weiterreichenden Zusammenarbeit kommt.
Dass der Online-Anteil des Handels mit Lebensmitteln explodieren wird, ist also auch für die kommenden Monate eher nicht zu erwarten. Potenziellen Kunden deswegen das Bedürfnis abzusprechen, nicht ewig in Kassenschlangen stehen, Parkplätze zu suchen oder schwere Tüten nachhause schleppen zu wollen, ist angesichts der momentanen Entwicklungen allerdings abenteuerlich.
Offenlegung: K5 unterstützt das Supermarktblog als Sponsor.
Fotos: Supermarktblog
Der Witz ist ja, wie zB bei Carsharing, dass es in Regionen angeboten wird, die natürlich Bedarf oder den Wunsch danach haben, aber in der Tat davon unabhängig sind.
Im Stadtgebiet hat fast jeder mindestens einen Supermarkt vor der Haustür. Im Stadtkern sind es noch mehr, und da sind die Fachgeschäft nicht mal mitgerechnet.
Im Grund müsste ein Lieferdienst den ländlichen Raum versorgen (ja, die Wege sind weiter und die Margen dann auch niedriger) aber der Leidensdruck ist dort doch um einiges höher als in Großstädten.
Die klassischeren Tiefkühl- und Getränkelieferer tun das auch und haben nach meiner (nur punktuellen) Erfahrung zumindest dorfintern keine geringere Kundendichte als in der Innenstadt. Die funktionieren aber auch eher wie Picnic, bloß mit geringerer Frequenz.
Ist die Möglichkeit gegeben sich die Präsentation in PDF oder ähnlichem runterzuladen?