Getir übernimmt Gorillas: Ende mit Schrecken?

Getir übernimmt Gorillas: Ende mit Schrecken?

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Ein beispielloser Auf- und Wiederabstieg geht zu Ende: Der türkische Quick-Commerce-Spezialist Getir schluckt seinen Berliner Rivalen Gorillas. Was bedeutet das für die Zukunft? Eine erste Analyse.

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Als sich Kağan Sümer im vergangenen Mai an die Mitarbeiter:innen seines Unternehmens wandte, hatte der Gorillas-Gründer mehrere schlechte Nachrichten im Gepäck. Und eine gute. Die schlechten zuerst: Gorillas werde 300 Leute entlassen und sich aus mehreren europäischen Ländern wieder zurückziehen, um sich auf fünf „Kernmärkte“ zu fokussieren. Die plötzliche Zurückhaltung der Investoren, begründet durch die veränderte Wirtschaftslage, lasse dem Start-up keine andere Wahl.

Aber, und das war wohl die gute Nachricht in dieser „Zeit des Wandels“: Sümer gab sich überzeugt davon, dass Gorillas sich trotz widriger Marktumstände in der „pole position to win“ befinde:

„[O]ne year from now there will be only 1-2 players remaining. Gorillas will be this player. And this requires a new plan.“

Gerade einmal sieben Monate später steht fest: Der Plan ist nicht aufgegangen. Selbst in der wundersamen Welt der Start-ups und Unicorns lässt sich Glück auf Dauer nur begrenzt durch Optimismus ersetzen.

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An diesem Freitag hat das türkische Gorillas-Vorbild Getir bekannt gegeben, seinen Berliner Wettbewerber zu übernehmen, der einen Hype um den superschnellen Liefereinkauf losgetreten hatte – auch dank der Fähigkeit, über viele Monate immer wieder neue Geldgeber für eine unmöglich scheinende Idee zu gewinnen: die Lebensmittellieferung innerhalb weniger Minuten.

Getir gibt Anteile an Gorillas-Investoren

Getir gibt den Investoren des Rivalen im Zuge der Übernahme Anteile am eigenen Unternehmen ab: laut „Manager Magazin“ 14, dem „Handelsblatt zufolge 12 Prozent („im Wert von 840 Millionen Dollar“, 40 Millionen davon fürs Management, „zusätzlich eine Barzahlung von 100 Millionen“).

Es ist die logische Konsequenz aus den gescheiterten Versuchen von Gorillas, selbst neue Mittel einzuwerben, um den Bestand des kapitalverschlingenden Unternehmens abzusichern, das sich gerade erst eine neue App-Version gegönnt hatte und mit – wenig gelungenen – Eigenmarken durchstarten wollte (siehe Supermarktblog).

Im Vorfeld der Bestätigung hatten Medien berichtet, es könnten vor allem jene Gorillas-Investoren profitieren, die sich im Zuge ihres Investments eine so genannte „Liquidationspräferenz“ gesichert haben. Sümer und drei weitere Gründer müssten sich mit geringeren Beträgen zufrieden geben. Spekuliert wurde zudem, die Gorillas-Investoren sollten womöglich Geld zuschießen, um Getir-Anteile zu erhalten.

Wieviel Sümer und die übrigen Gründer nun tatsächlich für ihre Anteile erhalten, ist (bislang) nicht bekannt.

An Fantasie hat es nicht gefehlt

Im Zuge der Übernahme wird Gorillas aber noch mit gerade einmal 1,2 (statt ehemals 3) Milliarden Dollar bewertet und Getir nicht mehr, wie noch im Frühjahr mit knapp 12, sondern 8,8 Mrd. Dollar, schreibt die „FT“ (Zusammenfassung bei „Gründerszene“).

Das „Handelsblatt“ geht „Finanzkreisen zufolge“ von 940 Millionen Dollar für Gorillas und 7 Milliarden für das fusionierte Unternehmen aus.

Beides sind, um’s mit „Exciting Commerce“ zu sagen: „reine Phantasiewerte“.

Aber das passt ja, denn wenn man dem Gorillas-Gründer eines nicht absprechen konnte, dann war das wohl: Fantasie. Zuletzt scheint Sümer sich verzockt zu haben. Er hat die Bewertung seines Unternehmens in immer wahnsinnigere Höhen hinaufzutreiben versucht, um am Ende eine Bruchlandung hinzulegen. Die „FT“ geht davon aus, dass er das Unternehmen verlassen wird („is also expected to leave the company“). Einerseits.

Andererseits ist diese Landung immer noch eine vergleichsweise weiche. Vor nicht einmal drei Jahren hatte Sümer noch seine Berliner Privatwohnung zum Lager umfunktioniert, um Freunde testweise mit Liefer-Lebensmitteln zu versorgen und die Idee zu testen, bevor „Getgoodies“ zu Gorillas wurde und der Gründer per App bestellte Minieinkäufe selbst zu den ersten Kund:innen in Prenzlauer Berg radelte (siehe Supermarktblog).

Zugriff auf Darkstores in 44 Städten

In unter drei Jahren vom Kontoüberzieher zum Millionär zu werden, indem man das Konzept eines Start-ups aus der Heimat kopiert, mit einem waghalsigen 10-Minuten-Lieferversprechen aufpudert, damit eine Lawine an Neugründungen, Fusionen und Pleiten auslöst und am Ende trotzt haufenweise versenkten Fremdkapitals selbst nicht mit leeren Händen dazustehen – das muss ihm erstmal jemand nachmachen.

[Nachtrag, 11.12.: Das „Manager Magazin“ (Abo-Text) berichtet, Sümer habe Gorillas bereits vor dem Verkauf an Getir verlassen müssen und für seine Anteile „nur rund 4,5 Millionen Euro bekommen“.]

Was passiert jetzt?

Getir wird Gorillas wohl im eigenen Unternehmen aufgehen lassen. Alles andere wäre eine Überraschung (und dumm). Zumal die Übernahme einem bekannten Schema aus der Start-up-Welt folgt: Original schnappt sich Copycat, um selbst ungestört expandieren zu können, anstatt sich weiter ein Wettrennen um die Kundschaft liefern zu müssen.

Dabei ist der Gorillas-Deal für Getir Chance und Risiko zugleich. Das in der Türkei zum E-Commerce-Allrounder avancierende Unternehmen erhält nun Zugriff auf 180 meist zentral gelegene Gorillas-Warenlager in 44 europäischen Städten. Das dürfte insbesondere in den Niederlanden und Frankreich von Vorteil sei , wo entsprechende Vorgaben die Ansiedlung neuer Darkstores in Innenstädten erschweren oder sogar dauerhaft verbieten könnten.

Ein ganzer Schwung Probleme

In Deutschland, wo Getir die Expansion lange verschleppt hat (siehe Supermarktblog), ist das Start-up auf einen Schlag in über 20 Städten vertreten (statt wie bisher in sieben): Augsburg, Berlin, Bonn, Bremen, Darmstadt, Dresden, Düsseldorf, Essen, Frankfurt am Main, Fürth, Hamburg, Hannover, Heidelberg, Karlsruhe, Köln, Leipzig, Mannheim, München, Nürnberg, Offenbach und Stuttgart.

Dazu kommen die von Gorillas forcierten Kooperationen mit großen europäischen Handelsketten: Tesco in Großbritannien, Jumbo in den Niederlanden, der Casino Group in Frankreich. Diese könnten Getir bei der Ausbreitung in den jeweiligen Märkten von großem Nutzen sein, weil sie u.a. Zugriff auf günstige Eigenmarken sichern.

Gleichzeitig erbt Getir aber auch einen ganzen Schwung Probleme. In Märkten, wo der Dienst neben Gorillas bereits aktiv ist, werden nahe beieinander gelegene Standorte trotz weiterlaufender Mietverträge geschlossen werden.

Zahlreiche Gorillas-Standorte dürften außerdem nach wie vor nicht profitabel sein; dass Getir das auf die Schnelle ändern kann, ist unwahrscheinlich.

Gorillas-Standorte für Franchise-Partner:innen?

Immerhin lässt sich jetzt das Problem lösen, das Getir nach Supermarktblog-Informationen bislang mit eigenen Lagern hatte, die wieder vom oder gar nicht erst ans Netz gingen, weil die Nachfrage der Kund:innen nicht für einen annähernd wirtschaftlichen Betrieb ausreichte. (Getir wollte sich damals auf Anfrage nicht dazu äußern.)

Getir ist durch die Übernahme auf einen Schlag in zahlreichen deutschen Städten vertreten und erhält Zugriff auf die Warenlager; Foto: Smb

Auch das Negativ-Image, das sich der aggressiv expandierende Quick Commerce in der Vergangenheit bei genervten Anwohner:innen und skeptisch gewordenen Genehmigungsbehörden erworben hat, bleibt Getir erhalten – und könnte weiteres Wachstum massiv erschweren. (Paris z.B. hat für 2024 eine strengere Regulierung des Sektors angekündigt.)

Gleichwohl wird der in Deutschland einzige verbleibende Flink-Rivale einen strategischen Wandel für die bisherigen Gorillas-Standorte einläuten.

Möglich wäre etwa, einen Großteil davon an Franchise-Partner:innen weiterzureichen, die Darkstores dann – so wie schon in der Türkei – auf eigene Rechnung und mit offizieller Lizenzierung durch Getir weiterbetreiben könnten. Bereits im Sommer hatte Getir für Deutschland ein entsprechendes Modell angekündigt; ein erster als Franchise-Betrieb vorgesehener Standort sollte in Berlin ans Netz gehen. Seitdem war davon aber keine Rede mehr.

Drastisch veränderte Ausgangslage

Darüber hinaus könnte Getir dank des Standort-Zuwachses doch noch seinen Ansatz verwirklichen, Darkstores nicht wie Gorillas direkt von Herstellern und Großhändlern beliefern zu lassen – sondern aus selbst kontrollierten Zentrallagern, von denen es hierzulande bereits zwei gibt (bei Berlin und Hamburg, weitere waren geplant, wurden bislang aber nicht umgesetzt).

Interessant wird sein, ob und zu welchen Teilen Getir das Sortiment des bisherigen Rivalen übernimmt und beibehält. Während Getir bislang stark auf den Vertrieb großer Herstellermarken setzt, knüpfte Gorillas zahlreiche Partnerschaften mit regionalen Anbieter:innen und Händler:innen. Die Rubrik „Berlin Buddies“ umfasst derzeit 32 Partner aus der Gegend, die von der frisch zubereiteten Bowl über alkoholfreien Gin bis zur Zimtschnecke ein vielfältiges Angebot zu bieten haben, auf das zahlreiche reguläre Supermärkte neidisch sein müssen. Darauf zu verzichten, könnte bisherige Gorillas-Stammkund:innen vergraulen.

Gleichwohl hat sich die Ausgangslage für alle Sofortlieferdienste drastisch verändert: Um profitabel zu werden, müssen sie Kund:innen inzwischen deutliche Aufschläge gegenüber dem Einkauf im Supermarkt zumuten – zusätzlich zu den Lieferkosten.

Was bleibt vom Gorillas-Hype?

Und auch wenn Getir, Flink & Co. weiter davon träumen, ihre Kundschaft mit dem Wocheneinkauf zu versorgen, bleibt das illusorisch – dafür sind die Sortimente zu sehr auf Convenience ausgerichtet. Was ja nichts Schlechtes sein muss, im Gegenteil. Fraglich ist nur, ob die damit erreichbare Zielgruppe, die auch nich bereit ist, für diese Form der Bequemlichkeit draufzuzahlen, auf Dauer groß genug ist. Im Moment sieht es eher nicht danach aus.

Was sonst bleibt vom Gorillas-Hype? Womöglich die Erkenntnis, welche Sogwirkung eine Idee auch dann zu entfalten vermag, wenn ihre Entwickler:innen (noch) nicht erklären können, wie sich das alles jemals rentieren wird.

Und das Staunen darüber, wieviele etablierte Handels-Manager:innen im Laufe der wenigen Monate bei Gorillas an und meist gleich wieder von Bord gegangen sind, weil auch sie sich kurzzeitig der Illusion hingaben, Teil einer Revolution sein zu können (oder zumindest: daran mitzuverdienen).

Gorillas hat winzig angefangen, ist schneller gewachsen als es jemals gesund oder sinnvoll gewesen wäre, und geht jetzt in dem Anbieter auf, der selbst erst noch beweisen muss, dass sein Modell außerhalb des Heimatmarkts funktionieren kann.

Das ist vielleicht kein Ende mit Schrecken. Aber eines, das viele Illusionen der vergangenen Monate wie Seifenblasen zerplatzen lässt.

Tschüssi! Foto: Smb

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5 Kommentare
  • Na endlich. Kein Mitleid mit den Investoren, schade um den Ärger den Anwohner und Mitarbeiter hatten und haben. Als Zulieferer gehypter Handelspartner gab es für mich viel Wind um nichts, da kein Geschäft zustande kam. Und die abgeworbenen Einkäufer aus dem LEH bedauern ihren Schritt sicher auch endgültig. Ich werde die Anfragen der sich im Goldrausch wähnenden Headhunter ganz bestimmt nicht vermissen. Viel Glück und Erfolg Getir, ihr werdet es brauchen.

  • im Grunde funktionieren die Schnell Lieferdienste auch nur in den Ländern, in denen der Gehaltsabstand zwischen den Kurieren und den Bestellern besonders hoch ist
    in Berlin bestellen teilweise Studenten mit weniger monatlichen Einkommen als die Kuriere
    dazu kommt, dass es in Deutschland im Gegensatz zu vielen anderen Ländern auch in der Innenstadt viele günstige Supermärkte/Discounter gibt
    in vielen anderen Ländern dagegen nur inhabergeführte kleine Märkte und Supermärkte ausserhalb
    für Deutschland sehe ich nur den Weg, ländliche Regionen ohne Supermarkt zu beliefern, in denen viele in abbezahlten Häusern und guten Einkommen/Renten einen hohen Aufschlag problemlos zahlen können oder die Lieferung sperriger und schwerer Dinge wie Getränke per Automobil
    mit dem Fahrrad in der Innenstadt Lebensmittel verteilen ist für mich gescheitert,allenfalls als Kiosk/Tankstellenersatz mit extrem hohen Aufschlägen als Nische

    • Ich kenne auch niemanden, der ohne Gutschein bei so einem Dienst bestellt hat. Auch bei Scootern fährt doch niemand ohne Gutschein und Freiguthaben.

    • Ich verstehe ebenfalls nicht warum immer der LEH als „angegriffene Branche“ von Quick Commerce Anbietern genannt wird. Sehe auch Kioske und Tankstellen als deutlich stärker betroffene Bereiche.

  • Hier in 10367 Berlin hat sich getir spontan am 15.1. verabschiedet (in der App „vorübergehend außer Betrieb“). Dafür hat Gorillas ein neues Lager am Wiesenweg bezogen und beliefert von dort Friedrichshain und Lichtenberg regulär weiter (mit dem eindeutig besseren Sortiment)

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