Am 25. November 2009 um 7 Uhr morgens öffnete in Köln-Bayenthal ein Laden, der vieles anders machen wollte als die bekannten Bio-Supermärkte: keine langen Regalreihen, sondern Produktinseln wie auf einem Marktplatz. Handgeschriebene Tafeln statt Werbeaufstellern. Und vorne ein Café, wo man vorm Einkauf erstmal zur Ruhe kommen konnte (siehe Supermarktblog).
Temma sollte Bio ohne erhobenen Zeigefinger sein – ein moderner Tante-Emma-Laden, entwickelt von der damaligen Rewe-Managerin Christiane Speck als Ergänzung zum klassischen Supermarktgeschäft. Das war ein mutiges Experiment für einen Handelskonzern wie Rewe. Auch wenn sich das Format bundesweit nicht durchsetzte und 2018 die meisten der damals neun Filialen geschlossen wurden (siehe Supermarktblog).
Speck übernahm die beiden Kölner Standorte in Bayenthal und Braunsfeld damals kurzerhand selbst und führt sie bis heute erfolgreich als unabhängige Bio-Supermärkte weiter.
An diesem Montag feiert Temma 15. Geburtstag. Die Party wird im Frühjahr nachgeholt; aber im Supermarktblog-Interview erzählt Speck schon jetzt, wie sich das angefühlt hat, ein neues Bio-Supermarkt-Format an den Start zu bringen.
Frau Speck, vor genau 15 Jahren eröffnete der erste Temma-Markt in Köln. Wie erinnern Sie sich an diesen Tag?
Christiane Speck: Ziemlich gut. Man muss vielleicht vorwegschicken: Wir hatten uns damals für eine stille Eröffnung entschieden, ohne Luftballons und alles, um langsam loslegen zu können. Dann war in dem Gebäude, das wir uns ausgesucht hatten, vorher so eine abgefrackte Videothek gewesen. Und die von uns ausgesuchte Logofarbe Schwarz-Oliv hatte intern zuvor bereits für Diskussionen gesorgt – viele meinten, man könne in Deutschland keine Lebensmittel mit so einer Farbe verkaufen.
Nach der Eröffnung waren die Passant:innen dann tatsächlich erstmal irritiert: „Was ist das denn? Sieht aus wie ein Möbelhaus“. Da wurden wir ziemlich nervös. Nach zwei Stunden kam der Anruf von Alain Caparros, dem damaligen Rewe-Vorstandsvorsitzenden. Mit zitternden Händen bin ich ans Telefon: „Wie läuft’s?“ – „Geht ein bisschen schleppend.“ – „Wie viel Umsatz haben Sie bis jetzt gemacht?“ – „30 Euro“, habe ich geantwortet, was nach zwei Stunden schon ein Witz war. Ich hab dann schnell zwei Flaschen Wein aus dem Regal geholt und selbst gekauft, damit wenigstens diese 30 Euro in der Kasse waren.
Die Leute mussten sich erstmal daran gewöhnen, dass da was Neues entsteht. Und ich hab mir damals geschworen: Nie wieder stille Eröffnung!
„Warum gibt es Bio nicht mit Spaß und Design?“
War der Standort in der Nähe eines Rewe-Markts eine bewusste Entscheidung?
Speck: Ja. Wir wollten zeigen, dass wir zusätzliche Umsätze generieren können und keine Kannibalisierung mit den klassischen Supermärkten passiert.
Sie waren damals Rewe-Bereichsleiterin für innovative Konzepte. Was war ausschlaggebend dafür, Temma zu entwickeln?
Speck: Ursprünglich kam ich aus der Expansion für Penny und war danach als Funktionsbereichsleiterin im Kooperationsmanagement zuständig für Großkundenakquise. Damals sollten die „Vierlinden“-Standorte verwertet werden, der erste Rewe-Versuch, eigene Biosupermärkte zu etablieren. Gemeinsam mit Elke Wilgmann – die damals die Strategieabteilung leitete und heute bei Rewe das Marketing verantwortet – hatte ich den Auftrag, zu überlegen, was sich daraus machen lässt.
Bei regelmäßigen Treffen, manchmal auch beim Essen mit einem Glas Wein, haben wir uns gefragt: Warum gibt es in Deutschland eigentlich keinen Bioladen, in den wir selbst gerne gehen würden? Alles ist immer so deprimierend, mit erhobenem Zeigefinger und riecht komisch. Warum gibt es nicht Bio mit Spaß und Design? Wie Tante Emma von früher, nur moderner und cool – also: Temma.
Wie haben Sie den Rewe-Vorstand davon überzeugt?
Speck: Wir haben eine umfassende Präsentation erarbeitet, mit Marktanalyse und Wettbewerbsanalyse. Mit einem befreundeten Designer haben wir den Namen und Design entwickelt. Und sind dann mit selbst gebasteltem Marktblatt und Tasche in die Vorstandssitzung gegangen.
Nach den ersten Seiten meinte Alain Caparros: „Wir haben so etwas Ähnliches in Frankreich.“ Und man merkte, wie da eine gewisse Dynamik aufkam. Am Ende hat er gesagt: „Meine Damen, haben Sie gut gemacht. Was brauchen Sie?“ Und wir haben geantwortet: ein Jahr und dieses Budget. Dann ging’s los.
„Ich bin selbst zum Öko geworden.“
2018 hat Rewe dann bekannt gegeben, das Format nicht fortzuführen. Wie schnell stand fest, dass Sie mit Temma in die Eigenständigkeit gehen – das war ja ein ungewöhnlicher Schritt, mit persönlichem und finanziellem Risiko verbunden?
Speck: Die Entscheidung von Rewe war schon im Sommer vorher gefallen – aus Konzernsicht war das auch total nachvollziehbar. Wir hatten es versucht, aber die Umsatzentwicklung der Standorte außerhalb von Köln und vielleicht Düsseldorf war weit vom Break-Even entfernt.
Gleichzeitig entwickelte sich bei mir das Gefühl, nach 15 Jahren im Unternehmen noch mal was anderes machen zu wollen. Rewe bot mir an, einen eigenen Rewe-Markt zu übernehmen. Aber ich dachte: Ich kann jetzt nicht plötzlich Buitoni und Barilla verkaufen. Ich war, ohne es zu merken, selbst zum Öko geworden. Und auf meinem Grabstein sollte nicht stehen: „Sie hat sich nicht getraut, es mit Temma alleine zu versuchen und weiterzumachen.“
Erst hab ich drei Monate schlecht geschlafen. Dann hab ich mich mit einem Controller hingesetzt, einen Business Case erstellt und Rewe das Angebot gemacht: Ich übernehme die beiden Kölner Standorte – die verdienen Geld und haben Fans, die auf die Barrikaden gehen würden, wenn es Temma nicht mehr geben würde.
Was war nach der Übernahme Ihre größte Herausforderung?
Speck: Ich musste den Mitarbeiter:innen, die ich unbedingt behalten wollte, beibringen, dass sie aus einem 50-Milliarden-Euro-Konzern in eine unbekannte GmbH wechseln sollen. Das war harte Arbeit. Aber viele sind tatsächlich heute noch dabei. Und dann musste ich natürlich überlegen: Wie kriege ich all das künftig alleine hin?
Anschließend hab ich die ersten beiden Wochen mit meiner Frau hier oben im ehemaligen Raucher:innenraum gesessen, der seitdem mein Büro ist, und jeden Käse, jede Wurst und jeden Fleischartikel einzeln neu im System angelegt. Das war ein Kraftakt; vielleicht war ich naiv – aber ich war auch total motiviert.
„Ihr könnt es euch leisten, bei uns einzukaufen.“
Gibt es Lehren, die Sie aus der Rewe-Zeit mit ins eigene Konzept genommen haben?
Speck: Also mit Konzern im Rücken – oder im Nacken, das trifft ja beides zu – ist man lockerer, man hat viel weitreichendere Marketing-Instrumente und ein anderes Budget. Auf der anderen Seite gibt es in einem großen Unternehmen viel weniger Flexibilität. Und das konnte ich sofort ändern. Ich leiste mir heute eine Komplexität, die ich als Managerin in der Rewe niemals selbst akzeptiert hätte.
Viele kleinere Bio-Läden hatten 2022/23 massive Probleme, weil die Kunden stärker auf ihre Budgets achteten. Wie sind Sie durch diese Krise gekommen?
Speck: Wir haben auch viele Kund:innen verloren und 2022 Verluste gemacht. Da war die Inflation in Kombination mit dem Krieg in der Ukraine, und die Presse hat ständig geschrieben: „Lebensmittel sind teurer geworden, vor allem Bio-Lebensmittel.“ Dabei hatte sich der Bio-Preis gar nicht so drastisch erhöht. Aber die Leute hatten das ständig im Ohr und dann sind plötzlich auch alle, die sechsstellige Gehälter verdienen, zu Aldi gefahren.
Inzwischen haben wird das Tal aber durchschritten. 2023 waren die Umsätze auch noch nicht so gut. Aber ich konnte Kosten abbauen. Und wir haben heute weniger Mitarbeiter:innen als vor Corona.
Wie sind Sie mit der Preissensibilität der Kunden umgegangen? Wie positionieren Sie sich gegenüber Discountern und dm, die mit günstigen Bio-Eigenmarken die Preise drücken?
Speck: Ich habe weiterhin „Rewe Bio“-Artikel als Preiseinstieg im Angebot, das ist superwichtig, und ich verzichte teilweise auf Spanne. Ein amerikanischer Manager hat glaube ich mal gesagt: „Man muss Inseln der Verluste in einem Meer der Gewinne schaffen.“ Ich habe wichtige Eckartikel definiert und bewusst im Preis gesenkt: einen günstigen Hartkäse, einen günstigen Weichkäse, Bananen für 1,99 Euro, regionale Äpfel für 3,90 Euro das Kilo – bei Alnatura kosten sie 3,99 Euro, das freut mich natürlich.
In unserem Sortiment haben wir über 1.000 günstige Artikel und kommunizieren das auch: „Ihr könnt es euch leisten, bei uns einzukaufen.“ In meinem Freundeskreis sage ich: Gebt mir eure Aldi-Bons eines Monats, ich schreibe dahinter, was es bei Temma gekostet hätte. Es wäre mehr, aber vielleicht 50 oder 100 Euro – das könnt ihr euch leisten.
„Wir haben einfach viel mehr Auswahl. Das ist unsere Stärke.“
Der Bio-Fachhandel wurde stark von Pionier:innen geprägt, die Bio als gesellschaftliches Projekt verstanden. Sie kommen aus dem konventionellen Handel. Haben Sie deshalb einen weniger ideologisch geprägten, pragmatischeren Zugang zu Bio?
Speck: Im Gegensatz zu den Urvätern und Urmüttern habe ich den konventionellen Handel nie als Bedrohung gesehen. Als wir noch zu Rewe gehörten, waren die Bio-Pionier:innen natürlich sehr kritisch. Als ich selbstständig wurde, haben sie mich anders in ihre Reihen integriert.
Ich glaube trotzdem: Die Agrarwende schaffen wir nicht nur über den Fachhandel. Es ist verrückt zu sagen: „Nur wir dürfen das.“ Wir können uns nicht ausruhen und sagen: „Wir waren die Ersten.“ Das interessiert niemanden. Wir müssen akzeptieren, dass der konventionelle Handel Bio ausbaut und das sogar positiv bewerten. Die Leute sollen ruhig mitkriegen, dass es nicht nur EU-Bio gibt.
Der Fachhandel muss es aber schaffen, stärker zusammenzuarbeiten, damit wir unsere Stärken ausbauen können. Der konventionelle Handel muss ja immer einen Spagat machen: „Demeter ist toll, aber kauft trotzdem weiter Mondelez-Produkte.“ Wir können konsequenter kommunizieren: Bei uns gibt es keine Genmanipulation, keine Pestizide, kein Antibiotikum – im ganzen Laden! Und klar, auch bei Aldi kriegst du inzwischen Artikel mit Verbandssiegel – aber in unseren Läden sind es 3.000! Wir haben einfach viel mehr Auswahl. Das ist unsere Stärke.
Auch die Hersteller müssen da mithelfen – was bislang eher selten passiert. Im Fachhandel gibt es kaum eine Marke, die jemals außerhalb der „Schrot und Korn“ beworben wurde. Aber die lesen doch nur Leute, die ohnehin schon im Fachhandel einkaufen!
„Warum nachhause liefern? Die Mobilität ändert sich einfach.“
Der Handel hat überall Probleme, Personal zu finden – das betrifft Sie offensichtlich nicht?
Speck: Zwischendurch schon, aber wir finden immer wieder gute Leute. Manchmal sind wir für die auch bloß eine Übergangsstation; unser ehemaliger Deli-Chef war ausgebildeter Koch und wollte nach einer gewissen Zeit wieder in seinen Beruf zurück. In der Corona-Zeit hatten wir auch eine Journalistin, die bei uns gearbeitet hat. Diese Leute bringen ganz neue Perspektiven mit.
Aber, ja: auch wir mussten sparen. In der Coronazeit haben wir den Mitarbeiter:innen sehr frühzeitig einen Bonus ausgezahlt, später gab es aber auch mal kein Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Das versuche ich zu erklären. Ich zahle mir dann natürlich auch selbst nichts aus. Zwischenzeitlich haben wir aber Guthaben zum Einkauf bei uns ausgegeben und in diesem Jahr gab es Inflationsausgleichszahlungen.
Der Bio-Fachhandel hatte es lange nicht so mit der Digitalisierung. Sie haben mit dem „Genuss-Taxi“ experimentiert und liefern jetzt über Wolt. Warum?
Speck: Ich wollte das ausprobieren. Wir erreichen Kund:innen, die wir sonst nicht gewinnen würden. Viele junge Leute haben oft gar kein Auto mehr, maximal ein Fahrrad. Wie sollen die für mehr als 15 oder 20 Euro einkaufen? Die Mobilität ändert sich einfach.
Seit zwei Jahren arbeiten wir auch an einem Online-Shop. Mein Freundeskreis rät mir immer davon ab; aber ich könnte die Bestellungen direkt aus dem Laden picken – das macht das Risiko überschaubar. Und anders als Wolt, das wir fünf Tage die Woche anbieten, würde ich beim eigenen Online-Shop nur zwei, drei Tage in bestimmte Stadtgebiete liefern.
„Ich kann die Regionalität bei mir voll ausspielen.“
Wie unterscheidet sich Temma nach Ihrer Ansicht von anderen Bio-Läden?
Speck: Wir sind im Gegensatz zu den großen Ketten total serviceorientiert, haben unsere eigene Bäckerei und das Deli, in dem wir Frühstück und Mittagessen selbst zubereiten. An unserer Käsetheke gibt es vielleicht 120 Käsesorten in Bedienung. Wir machen jeden Monat Veranstaltungen wie die Käse-Wein-Abend, das werde ich nächstes Jahr noch weiter forcieren, und arbeiten mit regionalen Bekanntheiten aus der Gastronomie zusammen. Ich kann ja die Regionalität bei mir voll ausspielen.
Sehen Sie Potenzial für weitere Standorte?
Speck: Vor einem Jahr hätte ich gesagt: auf keinen Fall noch einen Laden! Jetzt denke ich, ein dritter wäre gut – aber nicht außerhalb Kölns. Ich finde, unsere Märkte wirken auch nach 15 Jahren noch recht frisch. Ich hab zwischendurch investiert, Farben geändert. Aber ich hätte Lust, nochmal was Neues auszuprobieren.
Wenn Sie auf 15 Jahre Temma zurückblicken: Was war die wichtigste Entwicklung?
Speck: Bewusste Ernährung ist – auch dank der Lebensmittelskandale der Vergangenheit – heute viel stärker im Bewusstsein der Leute verankert. Und natürlich war die Selbstständigkeit wichtig für mich. Aber dafür war das Konzept von Anfang an auch gemacht. Tante Emma schreit nach Händler, ob Frau oder Mann.
Was macht für Sie persönlich den besonderen Charakter von Temma aus?
Speck: Das ist einfach mein Laden. Das ist mein Baby. Ich habe das entwickelt. Ich liebe die Musik. Ich finde die Farben cool. Ich mag die Mitarbeiter:innen, die Kund:innen und unsere Lieferant:innen. Wir arbeiten sehr vertrauensvoll zusammen und das macht mich wirklich jeden Tag glücklich! Und ich glaube, mein Team findet mich inzwischen auch nicht mehr so doof wie damals, als ich mit dem Hosenanzug aus dem Fünfer gestiegen bin. Wir sind einfach voll der familiäre Laden geworden.