Nehmen wir mal an: Sie sind Ursula von der Leyen. Neuer Job seit Dezember, wegen der verdammten Pandemie gleich einen monströsen Wiederaufbaufonds an den Hacken, und zwischen den Kolleg:innen gibt es deswegen natürlich auch Streit; da kommt zeitraubendes Anstehen, um zwischendurch im Supermarkt ein paar Lebensmittel zu besorgen, natürlich ungelegen.
Nun ist Brüssel (in vielerlei Hinsicht) nicht Berlin, und wer weiß: Vielleicht hat Ursula von der Leyen die Ein-Zimmer-Wohnung neben ihrem neuen Büro im 13. Stock des Berlaymont-Gebäudes im Brüsseler EU-Viertel ja auch deshalb bezogen, weil sie sich zuvor über die Versorgungsmöglichkeiten in der Umgebung schlau gemacht hat.
Dass Carrefour gleich um die Ecke einen hilfreichen Express-Markt betreibt, dürfte der EU-Kommissionspräsidentin bei der Selbstversorgung zumindest gelegen kommen.
Selbst wenn sich die französische Supermarktkette größtmögliche Mühe gegeben hat, ihrer praktischen Idee einen möglichst unpraktischen Namen zu verpassen. Das ist aber vielleicht auch schon der größte Nachteil des vor einem Jahr eröffneten Carrefour express Walk-in Drive, der tatsächlich genau so heißt, und dessen Konzept zuvor schon in Paris und Lyon erprobt wurde.
Schnelleinkauf + Abholservice
Carrefour kombiniert damit zwei Trends im Lebensmitteleinzelhandel, die in der aktuellen Situation weiter an Bedeutung gewinnen: Convenience und Click & Collect. Oder, übersetzt: Schnelleinkauf und Abholservice.
An der Brüsseler Rue Froissart, nur wenige Schritte entfernt vom Kommissionsgebäude am Rond-point Robert Schuman, kriegen Parlamentarier:innen und Werktags-Anwohner:innen alles, was sie für ein Büro-Frühstück, die Mittagspause oder das Abendessen brauchen. (In der Vor-Corona-Zeit, als ich mir den Laden angeschaut habe, verirrten sich außerdem ein paar Tourist:innen dorthin.)
Direkt am Eingang, noch vor dem Obst & Gemüse mit Saisonkalender, gibt es gekühlte Mahlzeiten zum Mitnehmen: „Lunch Time“-Salate, belgische Fertiggerichte für die Mikrowelle („Vogelnestje“ ?) und belegte Pizza zum Fertigbacken.
Für den eher Richtung Feierabend terminierten Marktbesuch bietet sich ein Schwenk in Richtung Kühlregal an, in dem sich unter dem kecken Namen „Apero Time“ Käsewürfel, Hackbällchen, Oliven und Dips um die Sofortverspeisung bewerben.
Die eigentliche Besonderheit des Ladens ist aber ein bisschen versteckt direkt am Eingang schräg hinter den Kassen positioniert: ein Abholschrank mit 20 Zahlenschloss-gesicherten Fächern. Denn der Laden ist quasi die Übersetzung des in den Carrefour-Ländern etablierten Drive-Formats für die Innenstadt.
Die ursprüngliche Idee besteht darin, Kund:innen ihre Einkäufe im Netz bestellen und sie anschließend am Markt ihrer Wahl selbst mit dem Auto abholen zu lassen (deshalb ja: Drive). Mit dem „Walk-in Drive“ will die Handelskette sich stärker an Ein-Personen-Haushalte – wie den von Ursula von der Leyen in ihrer Betriebswohnung – richten und nicht-motorisierten Kund:innen das Abholen von Lebensmitteln erleichtern.
Dafür wirbt Carrefour selbstbewusst mit der Ansage, „Auswahl und Preise wie im SB-Warenhaus – mitten in der Stadt“ zu bieten („Le choix et les prix d’un hypermarché disponible au centre-ville“).
Anders als Rewe, das seinen Abholservice hierzulande derzeit massiv ausweitet (siehe Supermarktblog), werden die Bestellungen nicht direkt in den Läden kommissioniert, sondern in einem externen Lager. Das hat den Nachteil, dass die Abholzeiten eingeschränkt sind: Wer bis zum Mittag bestellt, kann ab 16 Uhr zum Einsammeln kommen. Das Verfahren hat aber auch Vorteile: Kund:innen können nämlich aus 10.000 Artikeln auswählen – und nicht nur aus rund 4.500, die sonst in einem durchschnittlichen Carrefour express im Regal stehen.
(Außerdem lässt sich per Walk-in Drive natürlich vermeiden, dass einem an der Kasse jeder in den Einkaufswagen glotzt und die Flaschen Weißwein zählt.)
„Lunch Délicieux“ aus dem Supermarkt
Carrefour ist nicht die einzige Handelskette, die Mini-Supermarkt und Abholservice miteinander zu verschmelzen versucht. Noch ein Stück konsequenter macht das der belgische Konkurrent Delhaize – ebenfalls in Brüssel, und noch deutlich zentraler.
In der Galerie Ravenstein, einer Art Einkaufspassage am Mont D’Arc mitten im Zentrum …
… hat Delhaize – das so wie die niederländische Schwester Albert Heijn zum Handelskonzern Ahold Delhaize gehört – im Herbst 2018 ein prominent gelegene Fläche mit dem neuen Format Delhaize Fresh Atelier bezogen. Das verspricht vorbeikommenden Passant:innen (gleich auf Englisch) „Breakfast“, „Great Lunches“ und „Tasty Dinners“.
Der 80-Quadratmeter-Convenience-Markt (Titelfoto) besteht nur aus zwei schmalen Gängen, in denen vorrangig Lebensmittel untergebracht sind, die zum Mitnehmen und Sofortessen gedacht sind. Es gibt „lovely salads“ und „steam meals“, „home made sushi“, Quiche und Foccaccia, von morgens um sieben bis abends um neun.
Der Laden lockt zudem mit „high quality“-Kaffee zum Selberbrühen. Und an der Selbstbedientheke lassen sich Schalen zum Mitnehmen in drei Größen mit kreativ marinierten Gemüsevariationen und Salaten befüllen (für 2,99 Euro in der Mini-Variante bis zu 6,99 Euro für die größte).
Für besagtes „Lunch Délicieux“ aus der Theke – das zu vernünftigen Preisen tatsächlich ziemlich lecker schmeckt – hat sich Delhaize mit den Schnellgastronomie-Experten von Foodmaker zusammengetan, die für sich reklamieren, eine Art „gesundes McDonald’s für Europa“ werden zu wollen und bereits in eigenen Läden auf schnelles Mitnahme- und Sofortessen im Buffet-Style spezialisiert sind.
(Ursprünglich waren für dieses Jahr fünf weitere Neueröffnungen geplant; davon hat Foodmaker wegen Corona allerdings Abstand nehmen müssen und angekündigt, stattdessen die bisherige Kooperation mit Delhaize auf weitere Läden auszudehnen, um Gäste mit Mahlzeiten zu versorgen.)
14.000 Produkte zum Abholen
Bezahlt wird im Fresh Atelier an vier schmalen SB-Kassen – oder direkt per App, die auf den etwas albernen Namen „Yes we scan“ getauft wurde und einen Bestätigungs-Scan am Ein- bzw. Ausgang verlangt.
Genau wie der Wettbewerber aus Frankreich richtet sich aber auch Delhaize mit seinem neuen Format nicht ausschließlich an Sofortverzehrer:innen, sondern hat sein zweites Einkaufsversprechen prominent ins Schaufenster geklebt (wieder auf Englisch): „More than 14.000 products in one click – Collect your groceries here.“ Oder, übersetzt: adé, SB-Warenhaus.
Zum Abholen des Online-Lebensmittel-Einkaufs gibt’s im Laden einen separaten Tresen auf der linken Seite, an dem Mitarbeiter:innen – wenn gerade kein:e Abholer:in bedient werden muss – warme Mahlzeiten ausgeben und Baguettes frisch belegen.
Und die Bestellungen? Werden per Velo-Kurier in die Innenstadtfiliale transportiert.
Fresh Atelier ist noch sehr viel zielstrebiger darauf ausgerichtet, den Einkaufsgewohnheiten derjenigen entgegenzukommen, die tagsüber wenig Zeit oder Lust haben, im Supermarkt Schlange zu stehen. Zu Beginn des Jahres hat Delhaize in der belgischen Hauptstadt bereits die vierte Filiale und die dritte in Antwerpen eröffnet. Eigentlich sollte das Filialnetz bis Ende 2020 bereits 30 Fresh Ateliers umfassen; dieser Zeitplan dürfte inzwischen aber hinfällig sein.
Einkaufsgewohnheiten ändern sich
Weil angesichts europaweiter Ausgangssperren sehr viel weniger Leute in den Städten unterwegs sind, werden vorerst auch weniger Sofortmahlzeiten gekauft – einerseits; andererseits kaufen viele Kund:innen seit Beginn der Krise öfter in der Nähe ihres Wohnorts ein (siehe Supermarktblog).
Mittelfristig dürfte die Nachfrage nach Abholmöglichkeiten für online bestellte Lebensmittel auch deshalb ansteigen, weil Kund:innen seltener selbst einkaufen gehen wollen, um das Ansteckungsrisiko gering zu halten. Davon könnte, wenn die Sperren nach und nach wieder gelockert werden, auch Delhaizes Fresh-Atelier-Format profitieren.
Nicht zuletzt besteht ja die Hoffnung, dass wir uns irgendwann in den kommenden Monaten, vielleicht auch erst im nächsten Jahr wieder freier und ungezwungener in Städten bewegen können als das derzeit möglich ist. Eins steht schon fest: In Brüssel wird diese Bewegung deutlich anders aussehen als vor Corona – weil die Stadt den Entschluss getroffen hat, große Teile ihrer Innenstadt weitgehend autofrei halten zu wollen, um Fußgänger:innen und Radfahrer:innen mehr Platz einzuräumen, auch auf den Straßen. (Vermutlich, um sich ein für alle Mal von ihrer eigenen Graphic-Novel-Dystopie loszusagen.)
Gewinnen Mischformate an Bedeutung?
ZDF-Brüssel-Korrespondent Stefan Leifert fasst die Änderungen (und erste Anzeichen für deren Umsetzung) in diesem Thread auf Twitter zusammen (hier komplett lesen):
Andere (europäische) Städte nutzen die Ausnahmesituation ebenfalls, um die Prioritäten ihrer Verkehrsplanung zu überdenken: Mailand zum Beispiel. Diese Umstellungen dürften ganz wesentlich auch darauf Einfluss haben, wie Menschen in der Innenstadt Lebensmittel einkaufen. Abhol-Mischformate wie Carrefour express Walk-in Drive und Delhaize Fresh Atelier könnten deswegen zusätzlich an Relevanz gewinnen.
Das wäre – nach meiner Überzeugung – auch für viele deutsche Städte eine begrüßenswerte Entwicklung, etwa um dem (Lebensmitteleinzel-)Handel irgendwann mal die riesigen Versiegelungsflächen zu entreißen, die derzeit als Parkplätze für den Individualverkehr freigehalten werden (und deshalb kaum anderweitig genutzt werden können, auch nicht für Handelsinnovationen).
So ein kleiner Brüssel-Ausflug, bei dem man sich idealerweise in nicht allzu ferner Zukunft ein bisschen was für zuhause abschauen könnte, wäre doch für Verantwortliche im deutschen Lebensmitteleinzelhandel eine schöne Idee. (Und bis dahin tut’s ja zur Anregung vielleicht auch dieser Blogeintrag.)
Mehr zum Thema: in den Blog-Dossiers zu Innenstadt-Supermärkten und Convenience Stores.
Fotos: Supermarktblog