Wenn Sie wissen wollen, „[w]ie die Zukunft des Discounts aussehen könnte“, dann müssen Sie nach Auffassung von Aldi Nord in die Lange Viestraat des niederländischen Student:innenstädtchens Utrecht fahren. Aber nur um schon mal eins vorweg zu nehmen – so wie auf diesem Bild eher nicht:
Fünf Herren im dunklen Anzug, die in einem Lebensmittelladen unter einer „FUTURE“-Leuchtreklame stehen und gemeinsam für ein Pressefoto auf eine Packung Eigenmarken-Jaffa-Cake deuten, sind und waren zu jeder Zeit in der Geschichte des modernen Lebensmitteleinzelhandels ein Alarmzeichen.
Weil sich besagte Herrschaften (und vornehmlich sind es Herrschaften) aus Konzernzentralen zu Neueröffnungen vor allem in den Märkten blicken lassen, um einander dort gegenseitig zu versichern, wie gut alles geworden ist – und die meisten längst wieder in den Dienstwagen gestiegen und weggefahren sind, wenn die harte Realität des Kund:innenalltags einschlägt.
Wie groß die Diskrepanz dazwischen sein kann, hat zuletzt Aldi Nord eindrücklich zu spüren bekommen.
Erstmal einen Preis abholen
Bei den „Retail Technology Awards“ (Reta) European Retail Institute (EHI) holte sich der Discounter gerade in der Kategorie „Best AI & Robotics Application 2023“ die Siegerurkunde ab – und zwar für besagten Markt in Utrecht, der als „Aldi Shop & Go“ vor gerade einmal acht Monaten eröffnete und (bislang zumindest) ohne reguläre Kassen auskommt. Kund:innen scannen am Eingang einen QR-Code in der dazugehörigen App, können dann nach Belieben Produkte aus den Regalen nehmen und den Markt wieder verlassen, ohne irgendwo anstehen zu müssen. Der fällige Betrag wird automatisch vom hinterlegten Zahlmittel abgebucht.
Während das Schwesterunternehmen Aldi Süd einen Laden mit vergleichbarer Technologie in London mit dem Partner Aifi aus Kalifornien testet, hat sich Aldi Nord für die Niederlande und den Mitbewerber Trigo entscheiden, mit dem auch Rewe zusammenarbeitet.
Und die Verantwortlichen sind voll des Selbstlobs.
„Die Magie im Discount liegt in der Einfachheit. Wir setzen Technologien deshalb immer da ein, wo sie uns gezielt besser und schneller machen“,
ließ sich Sinanudin Omerhodzic, Chief Technology Officer von Aldi Nord, zur Eröffnung zitieren.
Die Shop-&-Go-Projektverantwortliche Mareike Kleimann versichert im Marketing-Video:
[I]t’s a frictionless experience indeed.“
Und Jan Oostvogels, CEO von Aldi in den Niederlanden, behauptet gar:
„For the Netherlands it also fits very well with the mindset of the dutch people. They are affine with technology and innovation. (…) What we are testing here, would be the ultimate translation of making shopping as easy and quickly as possible.“
Menschenleere Gänge
Dabei hat die heile Technologie-Welt des Innovations-Discounters bereits Ende des vergangenen Jahres ein paar hässliche Risse bekommen. Am 9. Dezember postete Philip Boontje, Gründer eines niederländischen Start-ups, ein Video davon, wie er als einfacher Kunde durch die menschenleeren Gänge des Utrechter Shop-&-Go-Markts lief, um währenddessen die Grundprinzipien des Wunderladens auseinander zu nehmen. Boontjes mit reichlich Häme geschmückte Kritik verbreitete sich per Social Media so nachhaltig, dass sie bis heute fast 350.000 mal angesehen wurde und bis Ende Januar selbst in die deutsche Tagespresse schwappte.
So titelte u.a. die „Welt“: „Niederländer verspotten Aldis Supermarkt der Zukunft“ – und ließ den zuständigen Wirtschaftsredakteur in dem darunter stehenden Text Boontjes Hauptkritikpunkte referieren. (Angereichert mit diversen Punkten, die ziemlich offensichtlich aus den Kommentaren von Nutzer:innen auf Google Maps abgeschrieben sind.)
Ein eher halbherziges Statement aus Essen taugte kaum zur Entkräftung. Fertig waren die Schlagzeilen.
Registrierung für den Einlass
Im Twitter-Video hatte Boontje sich zuvor über „very incompetent corporate innovation managers“ lustig gemacht und behauptet: „This is how venture capital goes wrong.“ (Was mindestens zur Hälfte Humbug ist, weil sich an dem in Israel gegründeten Tech-Start-up längst klassische Händler – z.B. Rewe – beteiligt haben.) Boontje spottete, es habe ihn „fünf bis zehn Minuten“ gekostet, bloß um sich in der notwendigen App anzumelden und in den Laden reinzukommen: „The user experience is like insane!“ Außerdem setze Aldi nur auf die Bezahlmöglichkeit per Kreditkarte; das bei den Niederländer:innen so beliebte „Pinnen“ – kontaktloses Bezahlen per Maestro-Karte – werde gar nicht angeboten. Dazu kommt die frühe Schließzeit des Markts. Sein Fazit: „simplistic and arrogant“.
Auch wenn ein Teil dieser Kritik durchaus ins Schwarze trifft: ganz so einfach ist es nicht.
Ja, der erste Aldi Shop & Go schließt die erste Hälfte der Woche ungewöhnlich früh bereits um 18 Uhr – warum, hat Aldi bislang weder kommentiert noch erklärt. Von Donnerstag bis Samstags ist (inzwischen) bis 20 Uhr geöffnet.
Und ja, Nutzer:innen wird eine vorherige Registrierung per App abverlangt, um in den Markt gelassen zu werden. Diese ist Voraussetzung, damit die Technologie Einkäufe den jeweiligen Kund:innen zuordnen und in Rechnung stellen kann. Diese Registrierung erfolgt ein einziges Mal, danach öffnet man einfach die App (Android, iOS) und scannt den Code, um reinzukommen. Weshalb beide Seiten gleichzeitig Recht und Unrecht haben.
Nix für Tourist:innen?
Um die Wucht seiner Kritik zu unterstreichen, übertreibt Boontje. Die Anmeldung in der herunter geladenen App beschränkt sich auf wenige Schritte, man registriert sich entweder mit der eigenen E-Mail und vergibt ein Passwort oder kann sich mit seinen Facebook- oder Google-Daten einloggen. Anschließend muss dem Konto eine Zahlart hinzugefügt werden. Alles in allem nimmt das zwar etwas Zeit in Anspruch, aber deutlich weniger als Boontje behauptet. (Ich hab unter fünf Minuten benötigt, inklusive sämtlicher Schritte und Einstellungen.)
Gleichzeitig verschweigt Aldi in seinen Anpreisungen des Markts aber eben auch, dass Neukund:innen sich einmal kurz Zeit nehmen müssen, um die Registrierung für Shop & Go abzuschließen.
Für alle, die schon wissen, dass sie regelmäßig in dem neuen Markt einkaufen wollen, etwa weil sie in der Nähe arbeiten, dürfte das kein Problem sein. Aber natürlich stellt sich z.B. Tourist:innen die Frage, wozu sie einen Anmeldeprozess durchlaufen sollen, wenn sie unterwegs bloß ein Sandwich und ein Getränk im Supermarkt kaufen wollen, den sie danach nie wieder besuchen werden.
Die Frage, wie intensiv der Testmarkt in Utrecht von Kund:innen bislang genutzt wird, ob er eher Anwohner:innen und Kund:innen anspricht, die in der Nachbarschaft arbeiten, oder auch Tourist:innen, lässt Aldi Nord auf Supermarktblog-Anfrage unbeantwortet. In einem vorgefertigten Statement heißt es lediglich:
„Seit der Eröffnung des Testmarktes Mitte letzten Jahres haben wir bereits viel positives und konstruktives Feedback von unseren Kundinnen und Kunden erhalten. Sie schätzen insbesondere die Einfachheit und Schnelligkeit des nahtlosen Einkaufserlebnisses, sowohl bei kurzen Besorgungen weniger Artikel als auch beim umfangreichen Wocheneinkauf.“
Hybrid-Modell setzt sich zunehmend durch
Aller Wahrscheinlichkeit nach hat sich Aldi schlicht und einfach bei der Wahl des Standorts für seinen Shop-&-Go-Test verkalkuliert: In der Utrechter Innenstadt dürften sich zahlreiche sich dort aufhaltende Kund:innen zweifellos davon abschrecken lassen, erst nach Anmeldung in den Markt eingelassen zu werden. Das hätte man, ohne große Fachsimpelei, vorher ahnen können.
Zumal auch andere Marktteilnehmer:innen sich entweder gegen eine vergleichbar restriktive Lösung entschieden oder Probleme damit bekommen haben:
- Rewe setzt bei seinem ebenfalls mit Trigo realisierten Konzept Pick & Go von Anfang an auf ein hybrides Modell, bei dem sich die Leute entscheiden können, ob sie kassenlos einkaufen wollen oder am Ende regulär an stationären Kassen bezahlen. (In München testet man seit kurzem auch ein komplett kassenloses Pendant.)
- Tesco hat sein Get-Go-Konzept ebenfalls mit stationären Kassen nachgerüstet.
- Selbst Kassenlos-Vorreiter Amazon funktioniert seine Just-Walk-Out-Technologie in Großbritannien gerade so um, dass Kund:innen leichter in die Märkte kommen und am Ende entscheiden können, ob sie an einer normalen Kasse bezahlen wollen.
Aldi Nord gibt sich bislang schweigsam: Man räumt lediglich ein, „dass sich die Technologie in ihrem derzeitigen Umsetzungsstadium insbesondere an technisch versierte Kundinnen und Kunden richtet“. Deshalb arbeite man „intensiv daran, Hürden zur Nutzung der Technologie mit Hilfe von Echtzeittests abzubauen und sie entsprechend unserer Kundenbedürfnisse weiterzuentwickeln“.
Ob dieses Kauderwelsch bedeutet, dass auch im Shop & Go in Utrecht demnächst eine klassische Kasse steht (was sehr, sehr nahe läge), beantwortet das Unternehmen nicht.
Kein Maestro bei Shop & Go
Nächster Punkt: Die Kritik an den eingeschränkten Zahlkarten bei Shop & Go ist plausibel, aber nur die halbe Wahrheit. Zum einen hat Aldi angekündigt, „zusätzliche Zahlungsmethoden abseits der Kreditkarten“ einzuführen:
„Wir sind hier zunächst mit diesem Branchenstandard für kassenlose Stores an den Start gegangen. Dank des Kundenfeedbacks testen wir nun aktiv mit Apple Pay eine weitere Bezahlmöglichkeit, um auf diese Weise ein breiteres Publikum in unserem Store begrüßen zu dürfen. Weitere Zahlungsmöglichkeiten können zudem noch folgen.“
Gerade ist für Nutzer:innen von Android-Smartphones zudem GPay freigeschaltet worden, das z.B. auch mit PayPal funktioniert. Warum dies nicht von Anfang an ermöglicht wurde, ist aber unklar.
Gleichzeitig lässt sich dadurch nicht die Kritik entkräften, dass Niederländerinnen gerne mit den sehr weit verbreiteten Maestro-basierten Debitkarten bezahlen, was bei Shop & Go nicht möglich ist. Mastercard hat allerdings angekündigt, Maestro zum Sommer dieses Jahres auslaufen zu lassen. Alle bislang abgegebenen Karten funktionieren weiter. Neue Karten stellen die zuständigen Banken allerdings automatisch als Debit-Mastercards aus, mit denen man auch online einkaufen kann – und eben z.B. bei Aldi Shop & Go. (Hintergründe dazu bei der Betaalvereniging Nederland und der niederländischen Rabobank.)
Nicht so einfach wie behauptet
Vielleicht hat man sich bei Aldi dazu entschieden, von vornherein auf ein ohnehin auslaufendes Kartensystem zu verzichten – verbunden mit dem Risiko, damit zunächst gegen die Gewohnheiten eines Großteils der möglichen Kundschaft zu agieren.
Mag sein, dass auch Sicherheitsbedenken dabei eine Rolle gespielt haben. (Rewe bietet für Pick & Go in Deutschland derzeit ebenfalls nur Kreditkartenzahlung, Apple Pay und GPay an, aber keine SEPA-Lastschrift.)
Aldi Nord sagt dazu aber leider – nichts. Was völlig in Ordnung geht, wenn man sich in seiner Kommunikationsstrategie gerne weiter an der Vergangenheit des Discounts orientieren möchte.
Aber „frictionless“ und „as easy and quickly as possible“ ist Aldis Shop & Go aus Sicht vieler Kund:innen bislang halt nicht.
Dazu kommt noch ein sehr grundlegendes Problem der Technologie, das sich nicht so einfach wegdiskutieren lässt – und zwar die Kritik, dass Kund:innen während des Einkaufs in Kassenlos-Läden nicht wissen, was ihnen die Technologie in Rechnung stellt. Das passiert erst per Kassenbon, der nach Verlassen des Markts oftmals mit einiger Verzögerung in der App landet, wo er dann eingesehen werden kann. Was dazu führt, dass man als regelmäßige:r Nutzer:in daran denken muss, den Einkauf im Nachhinein zu überprüfen, weil (zumindest nach meiner bisherigen Erfahrung) doch öfter Fehler passieren als Händler und Technologie-Partner das bislang nach außen kommunizieren wollen. (Mehr dazu demnächst im Blog.)
Zweifel am Nutzungs-Design
All das zusammengenommen rechtfertigt es nicht, die Kassenlos-Märkte schon als „Flop“ abzutun (liest sich bloß knackig in der Überschrift); es erlaubt aber erhebliche Zweifel am bisherigen Nutzungs-Design. Über die bislang bloß keiner sprechen möchte, weil alle so sehr damit beschäftigt sind, sich irgendwelche Awards dafür abzuholen, dass sie überhaupt mal was Neues versuchen.
Bei Aldi Nord heißt es, die Shop & Go-Technologie sei „ein dazulernendes System“, „die Zeit bis zum Erhalt des Kassenzettels verbessert sich ständig“, man teste den Verkauf von Non-Food-Artikeln und entwickele die Kund:innen-App weiter – allesamt Selbstverständlichkeiten.
Zudem biete man „schon heute ein hohes Maß an Genauigkeit“, und vielleicht ist genau das der Knackpunkt, weil Kund:innen, die Shop & Go regelmäßig nutzen können sollen, nicht nur „ein hohes Maß an Genauigkeit“ verlangen dürften. Sondern nichts Geringeres, als dass die Technologie ihren Einkauf im Supermarkt oder Discounter tatsächlich – wie ständig versprochen – leichter macht, anstatt bloß an anderer Stelle zeitintensiv (Registrierung) oder kompliziert (verzögerte Bon-Überprüfung und Reklamation).
Oder wie es bei Aldi Nord heißt:
„Unser Ziel bei ALDI ist es, den Einkauf für unsere Kunden so einfach wie möglich zu gestalten.“
So lange das noch nicht der Fall ist, wird die Kassenlos-Technologie der Zukunft zumindest in der Gegenwart vieler einkaufender Kund:innen kaum einen festen Platz erhalten.