Wenn Sie im Großbritannien-Urlaub demnächst schnell was einkaufen wollen und im Londoner Stadtteil Croydon um die Ecke des alternativen „Boxpark“ oder nach dem Bummel durch den Leadenhall Market, Kulisse für Harry Potters Winkelgasse, einen schnellen „Meal Deal“ favorisieren, trauen Sie ruhig Ihren Augen: Ja, da steht ein Mensch aus Fleisch und Blut hinter einer regulären Kasse im Amazon-Fresh-Minisupermarkt Ihrer Wahl! Und der schickt sich tatsächlich an, Ihren Einkauf zu scannen (mit den Händen!), um Sie auf allergewöhnlichste Weise bezahlen zu lassen.
Irre, was dank altertümlicher Technik heutzutage alles möglich ist.
Okay, die „Kasse“ sieht ein bisschen so aus, als sei sie nach einer durchzechten Nacht aus dem Baumarkt gefallen: ein holzimitatverkleideter Block mit kleinem Bildschirm und ausgeklappter Ablagefläche, auf die nicht mehr als ein Sandwich, ein Getränk und eine Tüte Chips passen.
Dahinter steht „We’re here to help“ auf einer grünen Wand. Und damit lässt sich’s nun wirklich nicht mehr leugnen: Der Kassenlos-Supermarkt der Zukunft ist ein für allemal in der Gegenwart angekommen.
Bzw. Amazons Engagement im Lebensmitteleinzelhandel um einen überraschenden Hakenschlag reicher.
Kund:innen entscheiden selbst, wie sie bezahlen
Anstatt sich – wie bisher bei Neueröffnungen seiner Fresh Convenience Stores in London – ausschließlich auf die selbst entwickelte „Just Walk Out“-Technologie zu verlassen, die Einkäufe von Kund:innen automatisch erfasst und in Rechnung stellt, schwenkt der Handelskonzern testweise auf ein hybrides Format, wie es z.B. Rewe in Deutschland vorgemacht hat: Kund:innen sollen selbst entscheiden, ob sie sich beim Einkaufen von einer KI beobachten lassen wollen, um den Gang zur Kasse zu sparen – oder ob sie lieber wie immer bezahlen. (Tesco in Großbritannien ist kürzlich vor- bzw. nachgezogen.)
Im vergangenen Jahr hatte es mehrfach Spekulationen gegeben, Amazon könne sich aus dem kostspieligen Supermarkt-Geschäft größtenteils wieder zurückziehen. So hatte etwa die „Sunday Times“ berichtet, der Konzern sehe sich nach gerade einmal 19 eröffneten Fresh-Filialen in London nicht nach neuen Standorten um.
Vor wenigen Wochen kam von Amazon die Bestätigung, die Expansion im stationären Lebensmitteleinzelhandel vorübergehend pausieren zu wollen, bis man das richtige Format gefunden habe.
Gleichzeitig betonte Amazon-CEO Andrew Jassy aber, an der Initiative mittelfristig festhalten zu wollen. Man experimentiere mit Auswahl, Preisen und Bezahlmöglichkeiten, hatte er der „Financial Times“ erklärt.
Eine spektakulärr Kurswechsel
Die beiden Fresh-Filialen in Croydon und Monument waren zuvor Ende Januar doch noch neu eröffnet worden, nur wenige Tage nachdem ein anderer Amazon Fresh im Osten Londons (Dalston) nach gerade mal 18 Monaten wieder schließen musste.
Ob im Laufe der kommenden Monate weitere Fresh-Filialen in Großbritannien hinzukommen, die über klassische Kassen verfügen, und ob bestehende Fresh-Märkte nachgerüstet werden, lässt Amazon UK auf Supermarktblog-Anfrage unbeantwortet.
Offiziell heißt es, man wolle die Option in „ausgewählten Märkten“ zur Verfügung stellen. Eine Sprecherin erklärt:
„At select Amazon Fresh stores, customers enter through a gateless opening and then browse and shop like at any other store. Once they’ve finished shopping, customers can head to the exit gates and simply tap or insert their payment card. Customers can use any payment card (with the exception of AMEX, Amazon giftcards or prepaid debit / credit cards) to checkout.“
Dahinter verbirgt sich nicht weniger als ein spektakulärer Kurswechsel. Bislang war es nämlich üblich, sich als Kund:in am Eingang mit seinem Amazon-Account zu identifizieren, um bei Fresh einkaufen zu können.
In den beiden genannten Filialen wird die Identifizierung nun an den Ausgang verlegt. Dadurch wird es möglich, Kund:innen erst dort entscheiden zu lassen, wie sie bezahlen wollen:
- An einer regulären Kasse, wie überall sonst.
- Oder automatisch, indem entweder der QR-Code in der Amazon-App gescannt wird – oder, und auch das ist neu, indem eine reguläre Kreditkarte zur Kontaktlos-Bezahlung an das Terminal neben der Auslass-Schranke gehalten wird.
(Die Kreditkarte muss offensichtlich nicht mit einem Amazon-Konto verbunden sein; ob bzw. wie in diesem Fall ein Bon zur Überprüfung des Einkaufs übermittelt wird, ist unklar. Amazon äußert sich dazu auf Anfrage nicht.)
Im Gegenzug braucht es wiederum keine Schranken am Eingang der Märkte, in die man einfach reinlaufen kann (siehe dieses Foto).
Ihr Kund:innen kommet
Offensichtlich ist Amazon äußerst bemüht darum, Hürden abzubauen, um mehr Kund:innen in die Läden zu kriegen. Bisher hing in deren Schaufenstern der Hinweis: „Log in or create your Amazon account“ – ohne Account war ein Einlass gar nicht erst möglich. Das dürfte sich in vielen Fällen als großes Hindernis für die Nutzung erweisen haben, weil die Kund:innen erstmal vor verschlossenen Schranken standen.
Sollte die Lösung in Croydon und Monument erfolgreich sein, wäre damit auch das bislang von Amazon gegebene „Just Walk Out“-Versprechen hinfällig – weil man ja nicht mehr einfach rausgehen kann, sondern erst noch scannen oder bezahlen muss.
In den beiden Londoner Test-Märkten scheint „JWO“ auch nicht mehr propagiert zu werden. Stattdessen weisen Schilder auf die unterschiedlichen Bezahlmöglichkeiten hin: „Checkout instantly“ per „App“ (QR-Code-Scan) oder „Tap“ (Mastercard, Visa) – „or we can checkout for you“.
Vor dem Laden und online wirbt der Konzern für „Simple, speedy shopping“.
Amazon experimentiert schon seit einer ganzen Weile damit, wie die selbst entwickelte Kassenlos-Technologie am besten in die eigenen Lebensmittelläden passt. In den USA können Kund:innen eines neu eröffneten Whole Foods in Washington, wenn sie sich nicht mit „Just Walk Out“ anfreunden wollen, ihre Einkäufe regulär an einer SB-Kasse am Ladenende scannen und bezahlen. Sie müssen sich aber bereits am Eingang für diese Option entscheiden (siehe Supermarktblog).
Abschmelzen von Eintrittsbarrieren
Ein gerade neu eröffneter Amazon Go nahe Washington setzt ebenfalls weiter auf einen Check-in wie am Flughafen, erlaubt aber außer dem Scan des Amazon-QR-Codes oder (nach einmaliger Registrierung) der eigenen Handfläche per „Amazon One“ auch die Nutzung regulärer Kreditkarten (siehe dieses Foto).
Die Fresh-Lösung in London lässt sich derweil als maximales Abschmelzen solcher Eintrittsbarrieren deuten – weil Kund:innen keine Zwänge mehr auferlegt werden, um in den Laden zu kommen, und die Bezahloption erst am Ende relevant wird. So wie es seit Jahrzehnten gelernte Praxis beim Lebensmitteleinkauf ist.
Sonderlich ausgefeilt wirkt der neu gestaltete Check-out mit den schwarzen Trenngattern und der dünnen Auslassschranke allerdings noch nicht (siehe dieses Foto).
In jedem Fall kristallisiert sich immer stärker heraus, dass der kassenlose Einkauf samt seiner KI-basierten Technologie in Zukunft nur eine Option für Kund:innen sein dürfte, für oder gegen die man sich bewusst entscheiden kann. Die ursprüngliche Idee vom Kassenlos-Supermarkt, in den aus Identifikationsgründen nur Kund:innen mit Amazon-Konto eingelassen werden (können), dürfte sich, wenn sich der Test in London als erfolgreich erweist, ein für alle mal erledigt haben.
Ein Update zu Amazons Strategie im Lebensmitteleinzelhandel steht hier im Blog.
Das Ziel von Amazon ist hier ganz klar, Zutrittsbarrieren abzubauen, die bei der bisherigen Lösung in Form der Registrierungs- und App-Pflicht bestand. Daran ist ja Aldi in Utrecht gescheitert.
Für mich sieht das System so aus, als ob man sich jetzt zwingend tracken lassen muss. Das System weiß ja nicht, ob man den „Fast Checkout“ am Ende nutzt. Für mich klingt es aber so, dass es vorkommen kann, dass beim Herausgehen das System den Warenkorb noch nicht fertig berechnet hat. Ansonsten könnte man auch auf die bedienten Kassen verzichten (Barzahlung am Automaten ist wahrlich keine Raketentechnik mehr) und einen Bondrucker am Ausgang installieren. Stattdessen landet der Bon (mit Verzögerung?) im Amazon-Account bzw. lässt sich über amazon.co.uk/receipts abrufen.
Worauf die Supermärkte achten müssen, ist, dass genügend Ausgangsschranken vorhanden sind, sodass sich nie eine Schlange vor dem Ausgang bildet. Insbesondere weil ich denke, dass dieses „Pick & Go“ zuerst an hochfrequentierten, „eiligen“ Standorten wie Bahnhöfen oder Zentralhaltestellen auftaucht. Einen verpassten Zug findet nämlich niemand lustig.