No lines. No checkout. (No, seriously.)“ – Alles hörte sich so einfach an, als Amazon vor vier Jahren die Schiebetüren seines ersten kassenlosen Lebensmittel-Minimarkts in Seattle öffnete – und sich vor dem Laden, in dem man nicht mehr Schlange zu stehen braucht, erstmal eine Schlange Neugieriger bildete, die zur Prüfung des gegebenen Versprechens Einlass erhalten wollten. (Mehr zu Amazon Go im Supermarktblog.)
Inzwischen scheint es aber so, als würde der Einkauf im Supermarkt, um einfacher zu werden, erstmal ein bisschen komplizierter.
So simpel wie erhofft scheint die Kassenlos-Zukunft jedenfalls gar nicht zu sein. Schlimmer noch: vielleicht ist sie nicht mal so kassenlos wie bisher geglaubt. Denn auch in Märkten, die mit Amazons „Just Walk Out“-Technologie (oder einer vergleichbaren von Spezialisten wie Trigo und AiFi) ausgestattet sind, gibt es zunehmend mehrere Möglichkeiten, seinen Einkauf abzuschließen.
Ein schönes Beispiel dafür ist Amazons Tochter Whole Foods Market, die vor wenigen Wochen in Washington D.C. eine Filiale wiedereröffnet und diese erstmals mit Amazons Kassenlos-System ausgestattet hat.
Entscheidung am Eingang
Das lässt sich einerseits als endgültige Bestätigung dafür sehen, dass Just Walk Out in Zukunft auch in größeren Supermärkten zum Einsatz kommen wird. (Die Verkaufsfläche des Whole Foods Glover Park beträgt rund 2.000 Quadratmeter bzw. umgerechnet 1,5 große Aldis.) Und ist andererseits Zeugnis einer Entwicklung, die der Kundschaft schon beim Betreten des Markts die erste Entscheidung abverlangt: nämlich wie sie später zu bezahlen gedenkt.
„Choose your preferred method“,
steht auf den Bildschirmen über der zweigeteilten Zugangsschranke. Wer kassenlos einkaufen möchte und nix gegen Kamerabeobachtung hat, scannt rechts erstmal einen QR-Code, der innerhalb der Amazon- bzw. Whole-Foods-App generiert wird, um sich identifizieren zu lassen.
Alle anderen Kund:innen können (inzwischen) durch die linke Schranke einfach so in den Laden, müssen am Ende aber den Umweg über das SB-Kassen-Séparée nehmen, um ihre Artikel selbst zu scannen und klassisch zu bezahlen:
„Prefer a register? We have self-checkout, too.“
Viel zu viele Möglichkeiten
Damit sich beim QR-Code-Suchen in der App vorm Laden aber nicht wieder Schlangen bilden, bietet Whole Foods seinen Kund:innen, die automatisiert bezahlen wollen, noch zwei weitere Möglichkeiten für den Einlass: entweder per Kredit- oder Debitkarte, die mit dem eigenen Amazon-Konto verknüpft ist; oder per „Amazon One“-Handscan, für dessen Nutzung zuvor einmalig an ein einem separaten Terminal die eigene Handfläche erfasst und mit einem Amazon-Konto verknüpft werden muss.
Und eigentlich sind das schon wieder viel zu viele Entscheidungen dafür, dass man doch eigentlich nur schnell ein bisschen Käse und ein Brot fürs Abendessen einkaufen wollte.
Es zeigt aber ganz schön, wie Händler sich zu Gunsten des Verzichts auf den klassischen „Check-out“ – die altmodische Kassenzone – im Zweifel einen vollständig neuen Check-in an den Eingang bauen müssen, wie man ihn bislang vor allem von Flughäfen kennt, um allen Kund:innentypen gerecht zu werden. (Die erhoffte Platzersparnis ist damit schon mal futsch.)
Nicht Bezahlen nervt, sondern Anstehen
In Deutschland löst Rewe, das für seinen ersten Kassenlos-Markt in Köln mit Trigo zusammenarbeitet, das etwas eleganter – und setzt darauf, dass alle, die automatisiert bezahlen wollen, am Eingang den notwendigen App-Code scannen, während die anderen einfach so in den Laden laufen dürfen (und hoffentlich am Ende regulär bezahlen).
Außerdem beteuert die Handelskette, sich an sämtliche europäische Datenschutzvorgaben zu halten, indem Kund:innen auf den für die Warenzuordnung erstellten Bilder nicht persönlich erkennbar seien.
Die französischen Kolleg:innen von Carrefour setzen in Kooperation mit dem Wettbewerber AiFi auf ein ähnliches Prinzip: Im Minimarkt „Carrefour Flash 10/10“, der Ende des vergangenen Jahres im 11. Pariser Arrondissement eröffnet wurde, erstellt das System Avatare der einkaufenden Personen, um ihnen die aus dem Regal genommenen Artikel zuzuweisen. Der Laden ist mit 60 Kameras ausgestattet und hat Waagen in sämtliche Regalböden integriert. Er verzichtet aber bewusst nicht auf die Kasse, sondern nutzt seine Technologie, um sie neu zu denken.
Die Grundannahme des Formats ist, dass für die meisten Kund:innen nicht das Bezahlen im Supermarkt nervig ist, sondern das Schlangestehen dafür. Deshalb schafft Flash 10/10 nur letzteres ab. Wer die gewünschten Produkte ausgesucht und in seiner Tasche verstaut hat, muss noch einen der Bildschirme an der Stirnseite des Ladens ansteuern, auf dem automatisiert der komplette Einkauf aufgelistet wird.
Ist ein falsches Produkt aufgelistet, kann sofort korrigiert werden. Anschließend wird kontaktlos bezahlt, z.B. per Karte oder (an einer separaten Kasse) auch bar.
Schnelleinkauf ohne Check-in
Vor allem aber muss nix am Eingang gescannt werden und niemand muss sich identifizieren, um eine Cola zu kaufen – so wie wir das bisher auch gewohnt sind. Dadurch können im Blitz-Carrefour auch Kund:innen schnell einkaufen, die ihr Smartphone zuhause gelassen haben oder gar keins besitzen. Bloß wer einen Bon möchte, muss seinen tragbaren Taschen-Rechner zücken und mit der Kamera einen QR-Code auf dem Bildschirm abscannen.
So ganz konsequent mag das alles noch nicht zu Ende gedacht sein. Der teilautomatisierte Check-out soll Kund:innen aber davor bewahren, den Einkaufsbon wie bei anderen Kassenlos-Märkten erst nach Verlassen des Ladens in die App gebimst zu kriegen – und sich für etwaige Reklamationen dann mit dem Kund:innenservice auseinander setzen zu müssen. (Wodurch wiederum die Zeitersparnis beim Einkauf dahin ist.)
Mit seinem Versprechen „No Gates, no lines – no surprises“ kann sich Carrefour deswegen auch einen Seitenhieb auf die Kassenlos-Technologie aus Seattle nicht verkneifen. Noch knackiger ist vermutlich die Zusicherung, nicht länger als 10 Sekunden zum bezahlen zu benötigen. (Was freilich nur auf kleine Einkäufe zutrifft.)
Altmodische Altersverifikation
Auch Flash 10/10 hat so seine Tücken: Mit zwei Regalreihen sind der Laden und das zur Verfügung stehende Sortiment arg überschaubar. Eine Produktübergabe an andere Personen kriegt das System derzeit scheinbar auch nicht zugeordnet, deshalb hängen an den Regalen diesbezüglich kleine Verbotshinweise.
Und für die Altersverifikation zum Einkauf von Alkohol ist weiterhin die Überprüfung eines Mitarbeitenden notwendig. Womöglich fällt die aber weniger abschreckend aus als die Alterskotrolle des Türstehers zur Weinabteilung bei Whole Foods in Washington, von der Einkäufer:innen im Netz berichten.
(Auch dazu gibt’s schon Alternativen, mehr dazu demnächst im Blog.)
Dennoch zeigt Carrefour zeigt mit seiner Experimentalfiliale ganz gut, wie die immer selbstverständlicher werdende neue Technologie im Supermarkt eingesetzt werden kann, um damit sehr unterschiedliche Einkaufserlebnisse zu generieren – je nachdem, welche Zielgruppe ein Händler damit ansprechen will: Smartphone-affine Sowieso-Mitglieder oder Datenschutz-empfindliche Anonymitäts-Bewahrer:innen.
Kassenlos-Technologie wird leistbarer
Nur eins scheint festzustehen: Die (Teil-)Automatisierung des Bezahlens stationärer Einkäufe wird zunehmend zur Selbstverständlichkeit im Lebensmitteleinzelhandel – zumindest, wenn der Markt die Entwicklungen nachvollzieht, die Amazon gerade mit Just Walk Out vormacht:
- Durch eine Weiterentwicklung der Kameras können in Just-Walk-Out-Läden sehr viel weniger (und kleinere!) Exemplare als bisher aufgehängt werden, was an der Decke deutlich weniger bedrohlich aussieht und bei Kund:innen für weniger Irritationen sorgen dürfte. So sieht das z.B. bei Whole Foods in Washington über den Backwaren aus:
- Gleichzeitig haben sich dadurch die Kosten für eine Installation massiv senken lassen – laut „Business Insider“ (Abo-Text) um 96 Prozent (!) seit 2017, von 4 Millionen auf 159.000 US-Dollar (bezogen auf eine 100 Quadratmeter große Verkaufsfläche).
In Europa testen außer Amazon u.a. Rewe in Köln, Netto (ohne Hund) in München, Aldi Süd in London, Aldi Nord in Utrecht (demnächst), Sainsbury’s und Tesco in London sowie Żabka in mehreren polnischen Städten eigene Kassenlos- bzw. Hybrid-Konzepte.
„Pick & Go“ gehört zu den am häufigsten verwendeten Format-Namen, Tesco setzt auf „GetGo“, Aldi Süd hat sich in Großbritannien für „Shop & Go“ entschieden und zudem gerade Markenschutz für „ALDI²Go“ beantragt.