Finale im Quick Commerce: (Wann) Wird Flink zu „Rewe Flink“?

Finale im Quick Commerce: (Wann) Wird Flink zu „Rewe Flink“?

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Hat der Rewe-Chef Recht: Kann Flink in Deutschland den Rivalen Getir besiegen? Während der türkische Quick-Commerce-Pionier große Teile seiner Europa-Expansion rückabwickeln muss, scheint sich Flink in seinen Kernmärkten stabilisieren zu können – und wird im Sinne seines aktuellen Leadinvestors immer rewiger.

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Wenn Gorillas in der eher kurzen Ära der nun langsam aussterbenden Quick-Commerce-Lieferdienste sowas wie der Velociraptor für den europäischen Lebensmitteleinzelhandel war, dann hat dessen Respekteinflößung gegenüber anderen zuletzt spürbar gelitten: Die für die Jagd verwendete Sichelkralle ist abgeschliffen, die leicht nach oben gebogene Schnauze hat zahlreiche Dellen abbekommen, und die Zeiten als „schneller Räuber“ (lat.: velox – „schnell“, raptor – „Räuber“) – hui, lange vorbei.

Mitte August berichtete das „Handelsblatt“ (Abo-Text), der Expresslieferdienst stehe „seit Monaten“ bei Lieferanten in Zahlungsverzug. Deshalb hätten viele die Warenlieferung vorerst eingestellt, was zu großen Lücken im Sortiment führt. Gorillas wollte das nicht kommentieren und erklärte, Lücken bald schließen zu wollen. Zur gleichen Zeit erhielten Kund:innen die Nachricht, dass Mindestbestellwert und Liefergebühren deutlich abgesenkt würden, was sehr nach Lagerräumung aussah.

Das wäre kaum verwunderlich, zumal auch die Gorillas-Mutter Getir in Schwierigkeiten steckt – und zwar nicht nur, weil die Beibehaltung der Zwei-Marken-Strategie wenig effizient sein dürfte. (Gorillas und Getir laufen weiter parallel zueinander, auch wenn Logistik und Sortimente zusammengeführt wurden.)

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Getir hatte sich seine Berliner Kopie Ende des vergangenen Jahres einverleibt (siehe Supermarktblog), muss nun aber um die eigene Existenz kämpfen: Das „Handelsblatt“ hat sich aus „Finanzkreisen“ sagen lassen, der Dienst verbrenne monatlich derzeit zwischen 80 und 100 Millionen Euro; im Juli soll es ein Krisentreffen der Anteilseigner gegeben haben, bei dem die Freigabe neuer Gelder an das Erreichen bestimmter Sparziele geknüpft werden sollte.

Getir-Abschied aus Südeuropa

Tatsächlich spart Getir– nämlich: an der eigenen Präsenz. Zahlreiche Märkte, in die man in den vergangenen Monaten expandiert hatte, werden wieder verlassen. Im Juni wurde der Abschied aus Frankreich publik, kürzlich folgten Italien, Spanien und Portugal. Aber auch in den verbleibenden fünf Ländern – Großbritannien, USA, Deutschland, Niederlande und der Heimat Türkei – läuft es nicht überall rund.

Getir und Gorillas bleiben bislang als eigenständige Marken bestehen; Foto [M]: Smb

Zahlungsziele seien gegenüber Lieferanten „stark ausgereizt“ worden („Handelsblatt“). Und im Vereinigten Königreich wurden einem Bericht von Sifted.eu zufolge nicht nur Warenlager geschlossen, um Miete zu sparen, sondern auch Kühlschränke und sogar Teile der Lieferflotte verkauft, um Lieferanten ihre Ware bezahlen zu können. (Getir verwies darauf, es sei „normal to sell excess inventory“). Mitarbeiter:innen aus der Zentrale sollen zudem aufgefordert worden sein, an Haustüren zu klingeln, um Promotion für den Dienst zu machen.

Am Dienstag wurde zudem bekannt, dass Getir europaweit etwa 2.500 Beschäftigte entlassen wird, um zu sparen.

Wie lange also hält Getir in den verbliebenen Ländern noch durch?

Die allermeisten Marktbeobachter:innen wetten: weniger lange als der Wettbewerber Flink, zumindest in Deutschland. Der leidet zwar auch unter dem Platzen der Quick-Commerce-Blase, scheint aber einen Weg gefunden zu haben, damit umzugehen und sich anzupassen.

Oder um es mit den Worten von Rewe-Vorstand Lionel Souque zu sagen („Handelsblatt“-Interview vom 9. Juni 2023, Abo-Text):

„Flink fokussiert sich. Man darf nicht den Fehler machen, sich in zu vielen Ländern zu verzetteln. Man muss erst mal im Heimatland zeigen, dass man das beste Konzept hat.“

Flink scheint einen Weg gefunden zu haben, mit der aktuell schwierigen Situation umzugehen und seine Investoren vom eigenen Modell zu überzeugen; Foto: Smb

„Mit Abstand das beste Team“

Souque glaubt, dass das klappt:

„Ich bin überzeugt, dass das Team von Flink mit Abstand das beste in diesem Geschäft ist. Wenn einer das schafft, ist es Flink – und das zeigen auch die Zahlen. Die sind später gestartet, haben aber in Deutschland und den Niederlanden Gorillas komplett überrollt und sind jetzt Marktführer. Es wird in jedem Land langfristig nur einen Anbieter geben. Und deshalb investieren wir in Flink.“

Im Juni wurde bekannt, dass Rewe sich als Leadinvestor an einer neuen Finanzierungsrunde für Flink mit einem Gesamtvolumen von 150 Millionen Euro beteiligt hat; die kolportierten 50 Millionen, die man in Köln beigesteuert haben soll, um seinen Flink-Anteil auf mehr als 10 Prozent aufzustocken, kommentiert Rewe nicht.

Dabei scheint das Engagement bis zum Schluss alles andere als selbstverständlich gewesen zu sein: Ende April berichtete die „Lebensmittel Zeitung“, die Entscheidung ob und in welchem Ausmaß Rewe bei Flink Geld nachschießen werde, sei offen („Rewe lässt Flink zappeln“, Abo-Text); eine Entscheidung der Gremien werde „frühestens in der zweiten Maiwoche“ erwartet.

Nur wenige Tage später gab es Medienberichte, denen zufolge Rivale Getir an einer Flink-Übernahme interessiert sei („Financial Times“: „Getir in talks to take over German grocery app rival Flink“, Abo-Text) – und natürlich kann das Zufall gewesen sein bzw. Getir witterte die Möglichkeit, die für Flink unklare Situation auszunutzen, um sich eines weiteren Wettbewerbers zu entledigen.

Eine praktische Schlagzeile

Die Schlagzeile muss aber auch sehr praktisch gewesen sein, um den zuständigen Rewe-Gremien für ihre bevorstehende Entscheidung einen Stups in die richtige Richtung zu geben – mindestens aus Sicht von Flink und eines an der Partnerschaft interessierten Vorstands eines großen Handelskonzerns: Entweder schnappt sich Getir den ganzen Markt – oder wir investieren selbst.

Wie die Entscheidung ausfiel, ist bekannt. (Und von welcher Seite die Gerüchte einer Getir-Übernahme gestreut wurden damit unerheblich.)

Nach Souques Überzeugung hat das Flink-Investment für Rewe mehr Vor- als Nachteile. Eine Kannibalisierung des unternehmenseigenen Lieferdiensts sieht er nicht, im Gegenteil:

„Flink ist der schnelle spontane Einkauf, das ist keine Konkurrenz zum Rewe Lieferservice, wo wir ein größeres Sortiment und Warenkörbe von im Schnitt fast 100 Euro haben. Das ist eine andere Einkaufsmission und ergänzt sich somit gut. Und es ist für uns wirtschaftlicher, uns an einem Spezialisten wie Flink zu beteiligen, als diesen Bereich selber aufzubauen. Wir lernen voneinander und wir machen für die den Großhandel.“

Man kann Flink aber auch als strategisches Investment für Rewe begreifen: Der Markt für die Schnelllieferung von Lebensmitteln mag nicht so groß sein, wie es sich die zahlreichen Getir- und Gorillas-Nachfolger erhofft hatten; aber es kann ja nicht schaden, ihn sicherheitshalber selbst unter Kontrolle zu haben.

Nicht unnötig der Industrie in die Hände spielen

Mit Getir wäre das nicht möglich gewesen, im Gegenteil: Nach einer Übernahme hätte sich Rewe bei Flink mittelfristig höchstwahrscheinlich verabschieden müssen.

Foto: D. van der Laan, Dutch Photo Agency via Jumbo

Zumindest ist es im Falle der niederländischen Supermarktkette Jumbo ganz ähnlich gelaufen, nachdem die Anfang 2022 eine „strategische Partnerschaft“ mit dem damals noch eigenständigen Gorillas angekündigt und das Start-up fortan mit Waren (inklusive Eigenmarken) versorgt hatte, so wie Rewe bei Flink.

Nachdem Getir das Sagen bei Gorillas übernahm, kündigte Jumbo die Vereinbarung im März dieses Jahres wieder auf – denn zum in der Türkei etablierten Geschäftsmodell von Getir gehört es, seine Dark Stores aus eigenen Warenlagern zu versorgen. Das macht eine Kooperation für eine traditionelle Handelskette deutlich uninteressanter.

Gleichzeitig ist Getir dafür bekannt, gute Geschäftsbeziehungen zu großen Markenherstellern zu unterhalten, deren Produkte einen relevanten Teil des in der App bestellbaren Sortiments ausmachen; in der Türkei haben Hersteller durch diese Partnerschaft massive Absatzsteigerungen verzeichnen können (siehe Supermarktblog).

Rewe hingegen kann keinerlei Interesse daran haben, die Position der Markenartikelindustrie, mit der man zuletzt wegen höherer Preisforderungen im Clinch lag, durch einen potenziellen Quick-Commerce-Monopolisten Getir zu stärken, der sich für Mars, Pepsi, Unilever & Co. als alternativer Verkaufskanal etabliert.

Ein fester Platz im Rewe-Universum?

Dazu kommt, dass sich Rewes bisherige Dominanz im deutschen Lebensmittel-Onlinehandel mit Flink noch schwerer brechen lässt als ohnehin schon. So lassen sich im Zweifel Marktanteile halten – oder bestenfalls sogar ausbauen. (Was mit neuen stationären Läden zunehmend schwieriger wird.)

Als Bonus-Zugabe kann Rewe seine Fühler mit Flink auch in den benachbarten niederländischen Lebensmittelhandel ausstrecken, wo die Kölner:innen bislang noch gar nicht engagiert sind. (Das dürfte aber eher keine Priorität bei der Entscheidung gehabt haben.)

Es wird hochinteressant zu beobachten sein, wie weit Rewe mit Flink in den kommenden Monaten zu gehen bereit ist: Schaut man sich einfach an, auf welchem Niveau sich der Quick Commerce hierzulande einpendelt, um kein Risiko einzugehen? Oder hilft man dabei, Flink so anzuschieben, dass der Dienst mittelfristig einen festen Platz im Rewe-Universum kriegt?

In den vergangenen Monaten hat Flink erhebliche Anstrengungen unternommen, Letzteres zumindest zu ermöglichen: Die Belegschaft wurde drastisch verkleinert, um Geld zu sparen; aus Anlaufmärkten wie Österreich hat man sich wieder zurückgezogen, um die zur Verfügung stehenden Investitionsmittel zunächst auf Deutschland und die Niederlande zu konzentrieren. Zur Komplexitätsreduktion wurde das Sortiment gestrafft und stärker an dem ausgerichtet, was Rewe als zentraler Warenlieferant beisteuern kann (siehe Supermarktblog).

Schnelleinkauf rückt wieder in den Fokus

Im Marketing steht der Schnelleinkauf wieder sehr viel stärker im Vordergrund (das also, was Rewe-Vorstand Souque so wichtig ist). Auf Plakaten forderte der Lieferdienst in den vergangenen Monaten unter Abbildungen des jeweils passenden Produkts auf: „Nutella / Chips / Pasta / Oatly leer? Flink’s dir!“ Auch die Situationen, für die sich Flink als Lösung anbietet, wurden wieder klarer benannt: „Alles für dein Date namens Sofa – Flink’s dir!“ bzw. „Kein Salz in der Suppe? Flink’s dir!“

Zuletzt fokussierte sich die Werbung wider auf ursprüngliche Flink-Kernkompetenzen; Foto: Smb

Zugleich ist Flink auf dem allerbesten Weg, immer rewiger zu werden.

Die im Frühjahr zunächst für einen begrenzten Zeitraum eingeführte Pricematch-Garantie ist beibehalten worden: Flink verspricht „Lebensmittel zu Supermarktpreisen“ und garantiert, für Produkte nicht mehr zu verlangen als der Rewe Lieferservice (siehe Supermarktblog).

Rewe-Eigenmarken sind in der Flink-App prominent platziert, hatten bzw. haben ihre eigene Kachel „Rewe Lieblinge“ (bzw. „Dauergünstig“):

„Bestellen Sie Ihre Eigenmarken-Supermarktfavoriten zu Supermarktpreisen.“

Überlebenshilfe und Testlabor

Und zumindest online geht man in der Werbung noch einen bemerkenswerten Schritt weiter. In Google-Anzeigen wird nicht nur betont, für was man steht („Flink: Rewe-Lieblingsprodukte“) und wofür man ursprünglich angetreten ist: „Dein Einkauf, geliefert in Minuten“ (inkonsequenterweise noch mit dem Nachschub: „Lass dir deinen Wocheneinkauf bequem nachhause liefern“). Vor allem aber ist noch vor dem darunter abgebildeten Flink-Schriftzug das Rewe-Dein-Markt-Logo platziert, sodass es schon fast so aussieht, als heiße der Absender dieser Botschaft „Rewe Flink“.

Und die Frage steht im Raum: Wird Flink tatsächlich irgendwann zu „Rewe Flink“?

Allzu weit hergeholt ist das nicht (mehr) – immerhin scheinen sich hier zwei gefunden zu haben, um miteinander auszutesten, was im deutschen Lebensmittel-Liefermarkt noch möglich ist. (Die Kooperation mit Wolt, dessen Mutter Doordash sich ebenfalls an Flink beteiligt hatte, sorgt für zusätzliche Reichweite – Transparenzhinweis: Wolt ist derzeit Sponsor des Supermarktblog Österreich Specials.)

Wolt und flink kooperieren in Deutschland für die schnelle Lebensmittel-Lieferung; Foto. Smb

Für Flink sichert Rewe das Überleben des Diensts in einem Markt, dessen Vorzeichen für kapitalintensive Start-ups sich zuletzt grundlegend verschoben haben. Für Rewe ist Flink wiederum ein Testlabor, mit dem sich Risiken eingehen lassen, die so eher nicht möglich wären, wenn (nur) die eigene Marke draufstehen würde.

Sollte Getir seine Probleme nicht in den Griff kriegen und sich mittelfristig auch aus Deutschland wieder verabschieden, und sollte sich daraufhin herausstellen, dass sich mit der Expresslieferung von Lebensmitteln hierzulande nennenswert Geld verdienen lässt – dann dürfte die Verlockung in Köln größer werden, Flink noch enger an sich heranzuziehen. Bis dahin ist alles offen.

Aber Aussterben können so lange ja ruhig die anderen.

Der Text wurde nachträglich mit der Meldung zu den Getir-Entlassungen vom Dienstag ergänzt.

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2 Kommentare
  • …und zwei Tage später schon die Nachricht, dass Getir sich as 17 von 23 Städten in Deutschland komplett zurückzieht und sich nur noch auf die sechs ganz großen Städte beschränkt.

  • Aber Flink ist doch schon längst tot. In den letzten Monaten hat sich das Sortiment und der Service komplett verschlechtert. Da dürften von Seiten der Kunden keine großen Erwartungen mehr vorhanden sein. Es ist eher die Erwartung, dass Flink bald seine Türen schließt.

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