Neue Struktur fürs US-Lebensmittelgeschäft: Macht Amazon seinen Lieferdienst Fresh zur stationären Supermarktkette?

Neue Struktur fürs US-Lebensmittelgeschäft: Macht Amazon seinen Lieferdienst Fresh zur stationären Supermarktkette?

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Amazon ordnet sein Lebensmittelgeschäft in den USA neu, um künftig besser auf die Bedürfnisse unterschiedlicher Kundengruppen in Großstädten und am Stadtrand einzugehen.

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In der vergangenen Woche hat Amazon angekündigt, künftig keine zusätzlichen Gebühren mehr für die Lieferung frischer Lebensmittel berechnen zu wollen. Die Änderung gilt (vorerst) nur für die USA und setzt natürlich eine Mitgliedschaft im Prime-Mitgliederprogramm voraus. Bislang hatte Amazon zusätzlich 14,99 Dollar im Monat dafür verlangt, Prime-Besteller:innen ihre Wocheneinkäufe nachhause zu bringen.

Die Änderung dürfte auch eine Reaktion darauf sein, dass Wettbewerber Walmart seine Lieferflatrate „Delivery Unlimited“ (für 98 Dollar im Jahr) kürzlich massiv ausgeweitet hat.

Dahinter steckt allerdings sehr viel mehr. Die Änderung scheint ein erster Schritt in der Neuorgansation des Geschäfts mit Lebensmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs zu sein, das Amazon ein- für allemal erobern will. (Dauert ja auch schon lange genug und ist ziemlich kompliziert – oder wie Techcrunch neulich schrieb: „Amazon’s strategy with online grocery is a bit mixed.“)

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Vieles spricht dafür, dass der Konzern einen Mehrmarkenansatz nutzen wird, über den sich unterschiedliche Zielgruppen im Markt bedienen lassen, während Eigenmarken-Produkte gleichzeitig über sämtliche Kanäle und Plattformen hinweg zugänglich gemacht werden.

Eine zentrale Rolle dürften dabei die Kernmarken Prime, Fresh und Whole Foods Market spielen.

Prime als Dachmarke auch für Lebensmittel

Sein Mitgliederprogramm Prime positioniert Amazon dabei immer stärker als Dachmarke sämtlicher Lieferservices, jetzt auch der für Lebensmittel. Im Blogpost, mit dem Amazon den Verzicht auf die monatlichen Zusatzgebühren ankündigt, ist nicht etwa das Fresh-Logo, sondern Prime zentral abgebildet – als Grundvoraussetzung für die kostenlose Sofortlieferung frischer Lebensmittel.


Screenshot: amazon.com, Smb

Neue Kund:innen können sich dafür registrieren, werden vorerst aber nur auf Einladung zugelassen. Damit wolle man einen „gleichbleibend guten Service“ für alle sicherstellen, erklärt Amazon. (Dadurch lassen sich die benötigten Kapazitäten für Kommissionierung und Lieferung langsam ausweiten; gleichzeitig kriegt Amazon eine Ahnung davon, an welchen Orten der Service besonders nachgefraght ist – Picnic macht es in Europe genauso.)

Unterhalb von Prime ist das Lebensmittelgeschäft mittels der Marken Fresh und Whole Foods Market organisiert. (Amerikanische) Amazon-Kund:innen, die sich online für „Groceries with Prime“ interessieren, werden nach der Eingabe ihrer Postleitzahl in einer Metropolregion vor die Wahl gestellt, wo sie einkaufen wollen – bei Fresh oder Whole Foods Market.

  • Fresh wird in diesem Zuge quasi als Standard-Supermarkt positioniert: „Shop quality produce, select national brands and Amazon favorites.“
  • Whole Foods Market bietet dagegen „local, natural, and organic items“ und bleibt als höherwertige Biomarkt-Alternative bestehen.


Screenshot: amazon.com, Smb

Je nachdem, für welches Angebot man sich als Kund:in entscheidet, wird man auf unterschiedliche Übersichtsseiten für Fresh oder Whole Foods Market geleitet:


Screenshots: amazon.com, Smb

Jede Marke bzw. jede Filiale verfügt dabei über ihren eigenen Einkaufskorb. Das liegt daran, dass die Bestellungen in den Läden kommissioniert werden, um den Kund:innen möglichst schnell zugestellt zu werden, erklärt Amazon in den FAQ:

„If you have access to multiple stores in your area, your order is fulfilled from each store individually so we can deliver them ultrafast. Build your basket by adding items from the same store for each delivery.“

„In den meisten Amazon-Fresh-Städten“ stünden kostenslose 2-Stunden-Lieferfenster zur Verfügung, heißt es; man wolle den Service „kontinuierlich ausweiten“. Wer seinen Einkauf schneller haben will, muss Gebühren zahlen.

Bislang erfiolgte die Lieferung von Whole-Foods-Artikeln in den USA über den Schnelllieferdienst Prime Now; von dem ist im neuen Angebot nun keine Rede mehr; die Adresse wholefoodsmarket.com/primenow ist zu /grocery-delivery-and-pickup geworden und leitet Kund:innen auf amazon.com/WholeFoods weiter.

Amazon braucht Läden – auch für Fresh

Mit den 485 amerikanischen Läden von Whole Foods Market verfügt Amazon in vielen Städten schon über die entsprechende Struktur, um sein Service-Versprechen einzuhalten.

Fresh allerdings ist derzeit nur in 21 Metropolregionen verfügbar; zuletzt hatte Amazon den Dienst auch in Houston, Minneapolis und Phoenix gestartet. Bislang werden Fresh-Einkäufe klassisscherweise in Verteillagern kommissioniert; das wird künftig kaum überall möglich sein, wenn Amazon sein 2-Stunden-Lieferversprechen einhalten will. Dafür braucht der Konzern sehr viel mehr Verteilstationen – und das heißt im Zweifel: einen Schwung neuer Läden.

Schon länger wird darüber spekuliert, dass Amazon eine weitere stationäre Supermarktkette gründen wolle, die parallel zu Whole Foods existieren könnte; das „Wall Street Journal“ (Abo) berichtete kürzlich über Anmietungen im Großraum Los Angeles. Amazon habe mehr als ein Dutzend Verträge für Verkaufsflächen abgeschlossen, die mehrheitlich in dicht besiedelten Vorstädten lägen. Die Vermutung liegt nahe, dass Fresh damit auch zur stationären Handelskette wird.

Unterschiedliche Zielgruppen

Zumindest würde das gut zur derzeitigen strategischen Positionierung der beiden zentralen Marken im Lebensmittelgeschäft passen:

  • Whole Foods Market für Kund:innen in Großstädten, die vor allem Wert auf regionale Produkte und Bio-Ware legen.
  • Amazon Fresh als Standardversorger für Familien mit Häuschen am Stadtrand, bei denen mehrheitlich klassische Marken bzw. Discount-Produkte auf den Tisch kommen, und die bislang tendenziell eher bei Walmart oder Target eingekauft haben.

In beiden Fällen würden die stationären Märkte als klassische Einkaufsstätte und Verteilstationen zugleich funktionieren. Bei neu angemieteten Fresh-Filialstandorten könnte Amazon einen höheren Flächenanteil für Lagerung und Kommissionierung einplanen und mit einem Abholservice kombinieren (ähnlich wie es der Konzern bereits seit 2017 mit Amazon Fresh Pickup in Seattle versucht).

Zu einer solchen Strategie würde auch die Entscheidung von Whole Foods Market passen, seine „365“ getauften Läden, die vor der Übernahme durch Amazon als günstigere Einkaufsstätten etabliert werden sollten, nicht mehr fortzuführen – und sämtliche 365-Filialen stattdessen in klassische Whole-Foods-Filialen umzuwandeln. Mit Fresh als Standard-Supermarkt-Schwester würde 365 als Ladenkonzept schlicht nicht mehr benötigt.

Amazon Go kommt als dritter Ladentyp hinzu, der sich mit seinem Mischkonzept aus Minisupermarkt und Lunch-Anbieter auf kleinen Flächen in Zentrallagen an Schnellversorger in Großstädten wendet, und ebenso expansionsbereit ist (siehe Supermarktblog).

Eigenmarken über alle Plattformen

Dabei schlösse die Mehrmarkenstruktur im stationären und im Liefergeschäft nicht aus, Produkte aus dem einen Markenkosmos auch Kund:innen des anderen zugänglich zu machen. Familien am Stadtrand wollen vermutlich ebenso Bio-Ware kaufen; und günstige Windeln werden auch in der Stadt benötigt.

Mit dem kontinuierlichen Ausbau seines Eigenmarken-Sortiments ist Amazon auch dafür bestens gerüstet: Im Lebensmittel-Angebot auf amazon.com wird derzeit prominent für die „Amazon and Whole Foods Market Exklusives“ getauften Produkte geworben: Von Wickedly Prime über 365 Everyday Value, Happy Belly, Solimo und die Amazon Meal Kits. Zahlreiche Produktvorschläge auf den Übersichtsseiten sind schon jetzt Eigenmarken.


Screenshot: amazon.com, Smb

Die 365-Everyday-Value-Produkte von Whole Foods gibt es auch bei Fresh zu kaufen; und Amazon Meal Kits werden seit einigen Monaten in den Whole-Foods-Filialen angeboten – und dort unübersehbar in der Obst- und Gemüse-Abteilung positioniert:

Die Neuaufstellung im Lebensmittelgeschäft wirft aber auch ein paar Fragen auf: 1. Was passiert mit den übrigen Marken wie Amazon Pantry? Und: 2. Was plant Amazon in Europa?

Pantry als Übergangslösung

Prime Pantry ist Amazons Lieferalternative für Gebiete, in denen (bislang) keine Strukturen etabliert sind, um frische Ware direkt zu liefern; ungekühlte Lebensmittel und Haushaltswaren werden einfach per Paket zugestellt. Größeren Raum nimmt Pantry in Amazons neuem Grocery-Kosmos aber nicht mehr ein, wird in den FAQ als „weiterer Dienst zur Lebensmittel-Lieferung“ erwähnt („another way for Prime members in select regions to shop on Amazon for household essentials“) – und dürfte als Übergangslösung so lange erhalten bleiben, bis auch in Randlagen entsprechende Lieferkapazitäten aufgebaut wurden.

Zu Europa: Dort verfügt Amazon schlicht noch nicht über die entsprechenden Strukturen, um die sich jetzt im Heimatmarkt abzeichnende Strategie umzusetzen.

Änderungen kündigen sich aber bereits ab: Vor einigen Wochen hat Amazon den Fresh-Service in Großbritannien massiv vergünstigt und eine On-Demand-Lieferung eingeführt; die ermöglicht es, auch einzelne Bestellungen über Fresh zu tätigen – ohne Zusatzabo (aber mit Prime als Voraussetzung) und für 2,99 Pfund pro Lieferung. Wer öfter bestellt, zahlt nur noch die neue Monatsgebühr von 3,99 Pfund. Dass auch die langfristig wegfallen könnte, scheint plausibel.

Neuer Übernahmekandidat gesucht

Gleichzeitig fehlt es Amazon weiter an einem langfristigen Partner im immer noch stark stationär geprägten Lebensmitteleinzelhandel. Morrisons gilt wegen seiner engen Kooperation schon länger als Übernahmekandidat. Gleichwohl hat Waitrose derzeit stark zu kämpfen und würde sich mit seiner Positionierung als Anbieter im höhenwertigen Segment mit starkem Convenience-Know-How und breitem Filialnetz bei gleichzeitiger Ungewissheit im Liefergeschäft hervorragend als Fresh-Ergänzung eignen.

Dagegen spricht freilich, dass Waitrose im vergangenen Jahr durch eine Umbenennung in „Waitrose & Partners“ noch stärker an den Eigentümer, den Kaufhauskonzern John Lewis, herangerückt ist. Dass man dort gerade – aus Kostengründen – die eigenständige Geschäftsführung für die Supermarktkette abgeschafft hat und von der Kaufhaus-Leitung miterledigen lassen will, ist in der Branche mit Verwunderung aufgenommen worden.

Und entweder unternehmerisches Harakiri. Oder die Vorbereitung dafür, das Geschäftsfeld leichter abspalten zu können? (Amazon wurde schon mal Interesse an Waitrose nachgesagt.)

… und Deutschland zum Schluss?

Mein Tipp wäre: Die Neuaufstellung des Lebensmittelgeschäfts in den USA hat für Amazon derzeit absolute Priorität; ist die geschafft, dürfte der Konzern versuchen, die Strategie für den britischen Markt zu adaptieren – und schließlich auch für Deutschland. (Was jeweils sehr spezielle Herausforderungen sind.) Hierzulande würde Fresh bis dahin auf kleiner Flamme weiterköcheln, weil eine größere Expansion zum derzeitigen Zeitpunkt schlicht keinen Sinn ergäbe.

Amazon wird die klassischen Lebensmittelhandelsketten in den kommenden Jahren ganz schön auf Trab halten – und, falls die neue Strategie in der Heimat aufgeht, einen Vorsprung haben, den viele, vor allem kleinere Wettbewerber nur noch schwer werden aufholen können.

Fotos: Amazon Fresh truck on Capitol Hill (USA): SounderBruce, CC BY-SA 2.0 via Flickr / Supermarktblog"

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