Um Budgets für die Entwicklung ihrer Ideen genehmigt zu bekommen, müssen Amazon-Mitarbeiter:innen üblicherweise interne Pressemitteilungen schreiben, die so tun, als kämen die neuen Produkte bzw. Services bereits auf den Markt. So lässt sich nach Überzeugung von Jeff I. am schlausten überprüfen, ob die Einfälle was taugen und einen Nutzen für die Kund:innen haben.
Um zu überprüfen, ob das stimmt, arbeite ich schon seit längerem daran, meinen sehr genialen Einfall eines Amazon-Supermarkts auszuformulieren, in dem sich alles einkaufen lässt, was man so an Lebensmitteln für die Woche braucht – aber unter ständig wechselnden Modalitäten. Mancherorts kann man sich online bestellte Einkäufe aus den Läden heimbringen lassen. Anderswo nicht. Um die Konkurrenz maximal zu verwirren, schließen neue Märkte manchmal nur wenige Monate nach der Eröffnung schon wieder. Dafür eröffnen andere neu und funktionieren dann völlig anders als bisher gewohnt.
Ich nenne diese Kette: Amazon Stop & Go – der Supermarkt, mit dem der tägliche Lebensmitteleinkauf immer eine Überraschung ist! Die Pressemitteilung dazu schreibt sich quasi von selbst.
Was, Sie sagen, das gibt es schon? Weil die Idee nichts anderes beschreibt als den bisherigen Irrweg des Konzerns durch den amerikanischen bzw. europäischen Lebensmitteleinzelhandel?
Och.
Beschwichtigung vom Chef persönlich
Man muss das vielleicht kurz ausführen, um es zu verstehen: Vier Wochen ist es her, da schaltete sich der seit Mitte 2021 amtierende Amazon-CEO Andy Jassy sehr überraschend in die Telefonkonferenz mit Analyst:innen zur Erläuterung der Finanzergebnisse des vorausgegangenen Quartals, um die Wogen zu glätten. Zuvor war bekannt geworden, dass Amazon weltweit rund 18.000 Mitarbeiter:innen entlassen und ein umfangreiches Sparprogramm umsetzen würde. Während der Pandemie war der Konzern schlicht zu schnell gewachsen. Die Kosten explodierten. 2022 meldete Amazon massive Verluste, die nach einer Kurskorrektur verlangten. Und die trifft auch die Ambitionen als (Online-)Supermarkt.
Nach zahlreichen Gerüchten über einen Rückzug aus dem umkämpften Geschäft versuchte Jassy zu beschwichtigen: Der Lebensmitteleinzelhandel sei für Amazon weiterhin ein strategisch äußerst wichtiges Feld, in dem man auch jetzt schon erfolgreich unterwegs sei. Um aber den Gewohnheiten der Kund:innen gerecht zu werden und ihnen in ausreichendem Maße frische Lebensmittel zugänglich machen zu können, sei es notwendig, stationäre Filialen zu betreiben.
Mit Whole Foods gelinge das bereits; die auf Bio-Lebensmittel fokussierte Handelskette sei aber ein „Premium“-Angebot für eine spezielle Zielgruppe. Jassy: „I think if you want to have a mass physical store offering, you need a different offering.“
Vielleicht, Hoffentlich, Malsehen
Genau das versuche Amazon mit Fresh zu etablieren: „We’re doing a fair bit of experimentation today in those stores to try to find a format that we think resonates with customers.“ Im Laufe des vergangenen Jahres habe man entschieden, die Expansion so lange zu stoppen, bis das richtige Konzept gefunden sei, um Kund:innen nachhaltig zu überzeugen.
„[B]ut we’re optimistic that we’re going to find that in 2023.“
„We’re working hard at it.“
„We see some encouraging signs.“
„And when we do find that equation, we will expand it more expansively.“
Anders formuliert: 16 Jahre nach dem Start von Amazon Fresh als Lebensmittellieferdienst in den USA, sechs Jahre nach der Präsentation der Kassenlos-Supermarktrevolution Amazon Go, fünfeinhalb Jahre nach der Übernahme von Whole Foods und zweieinhalb Jahre nach der Eröffnung des ersten eigenen Fresh-Supermarkts ist Amazon trotz zahlreicher Manöver, Formate und Tests immer noch völlig planlos, wie sich die Gunst der Kund:innen in einem Handelssegment erobern lässt, in dem die Konkurrenz nicht so schnell umgefallen ist wie in zahlreichen anderen Branchen, die Amazon erobert hat. Fest steht bislang bloß:
- Moderne Technologie alleine reicht nicht, um Kund:innen in die eigenen Läden zu kriegen.
- Der Omnichannel, von dem Amazon überzeugt ist, dass er den Lebensmitteleinzelhandel der Zukunft prägen wird (abwechselnde On- und Offline-Einkäufe), funktioniert nicht, weil das Ladennetz fehlt, um die breite Masse anzusprechen.
- Partnerschaften mit etablierten Lebensmitteleinzelhändlern laufen, wenn überhaupt, eher schleppend; in Deutschland gibt es mit Tegut auch nach Jahren bloß einen einzigen Partner; in den USA ziehen Rivalen wie Doordash, das gerade einen Pakt mit Aldi geschlossen hat, vorbei.
Schöne Läden, wenig Kundschaft
Für Amazon-Verhältnisse sind es außergewöhnlich viele Vielleichts, Hoffentlichs und Malsehens, die Außenstehende davon überzeugen sollen, dass das alles doch noch was wird mit dem „misfiring grocery business“, wie die „Financial Times“ Amazons Blindfahrt durch die eigene Supermarktwerdung gerade getauft hat.
Dabei ist es ja nicht so, dass die bislang eröffneten Läden den Standards der Branche nicht genügen würden, im Gegenteil. Sowohl die amerikanischen Fresh-Verbrauchermärkte als auch die britischen Convenience Stores sind modern designt, bieten eine respektable Auswahl an Marken, Sofortessen und Produkten für den täglichen Bedarf auch unter eigenem Namen und sind schlau mit Abholtheken für Entgegennahme und Rückgabe regulärer Amazon-Bestellungen verknüpft.
Das reicht aber in den meisten Fällen nicht aus, um die Kund:innen dauerhaft von der Konkurrenz wegzulocken – noch dazu, wenn die die besseren Angebote bzw. Preise hat.
Dazu kommt der Schlingerkurs im eigentlichen Amazon-Kerngeschäft, dem Internethandel, der für die Zustellung frischer Lebensmittel ähnlich schwer zu knacken scheint.
Schon seit einer ganzen Weile geistert Amazon Fresh zumindest durch den deutschen Online-Lebensmittelhandel eher als Schatten (siehe Supermarktblog), während Konkurrenten bei der Expansion aufdrehen. Ende Januar wurden dann auch noch die Liefermodalitäten für Fresh-Kund:innen verkompliziert und verschlechtert.
Labyrinth der Liefergebühren
Wer seinen Wocheneinkauf über Amazon erledigen will, muss nicht nur weiterhin über eine Prime-Mitgliedschaft verfügen, die sich zuletzt von 69 auf 89,90 Euro pro Jahr verteuerte; inzwischen ist auch die Fresh-Kostenlos-Belieferung ab 80 Euro teilweise ausgesetzt. Zu „stark nachgefragten Zeiten“ muss unabhängig vom Warenkorb pro Lieferung ein Euro zusätzlich gezahlt werden. Zusatzgebührenfrei ist die Fresh-Lieferung seitdem z.B. an meinem Berliner Standort nur noch montags bis donnerstags von 10 bis 15 Uhr und nach 19 Uhr, freitags vor 12 Uhr und nach 17 Uhr sowie samstags vor 11 Uhr und nach 16 Uhr. Wer sein Lieferzeitfenster auf eine Stunde reduzieren möchte, zahlt 3,99 Euro obendrauf; unter 80 Euro Warenkorbwert werden 6,99 Euro Zustelllgbühr fällig (ggf. plus Aufschlag).
Und jede Wette: Im angeblich so auf „Customer Centricity“ konzentrieren Amazon-Hauptquartier hat vorher niemand eine fiktive Pressemitteilung geschrieben, um zu prüfen, was die Kund:innen davon haben.
(Es gab ja nachher nicht mal eine echte.)
Dabei können sich deutsche Fresh-Kund:innen noch glücklich schätzen. In Großbritannien gilt seit wenigen Tagen nochmal eine deutlich verschärfte Gebührenstaffel. Und in den USA, wo Prime als Voraussetzung mit 139 Dollar zu Buche schlägt, ebenfalls: Bestellungen unter 50 Dollar kosten seitdem 9,95 Dollar Gebühr, zwischen 50 und 100 Dollar sind 6,95 Dollar fällig, bis 150 Dollar immer noch 3,95 Dollar. Im vorvergangenen Jahr hatte Amazon bereits für Whole-Foods-Besteller:innen eine Liefergebühr von 10 Dollar pro Einkauf eingeführt (wogegen Kund:innen prompt klagten).
Eigenmarken? Gerade nicht vorrätig
Und es mag sein, dass all das notwendig ist, um mit Fresh zumindest halbwegs kostendeckend zu arbeiten; ob die Kund:innen bereit sind, diese Beträge auch zu zahlen, oder ob sie sie eher zu ihrem bisherigen Einkaufsverhalten zurückkehren, ist aber noch längst nicht ausgemacht.
In Deutschland hat Amazon zuletzt seine Billig-Eigenmarke mit dem sperrigen Namen „Our Essentials by Amazon“ eingeführt, unter der es zahlreiche Produkte von Instant-Kaffee bis Toilettenpapier zu kaufen gibt – also: falls es sie gerade zu kaufen gibt. Was zumindest bei Fresh alles andere als selbstverständlich ist, weil zahlreiche Produkte in der maximal unübersichtlichen Suche nur schwer zu finden oder, falls doch, gerade als „Nicht vorrätig“ gesperrt sind.
Aber macht ja alles nix, weil: Der Amazon-CEO hat gesagt, er sei optimistisch, dass irgendwer in seinem Unternehmen bald die Formel für das Konzept findet, mit dem der Markt endlich von Amazon aufgerollt werden kann.
Vielleicht schon in diesem Jahr!
Alle arbeiten echt hart daran!
Es gibt ermutigende Signale!
Und wenn es erstmal soweit ist, dann geht es richtig los mit der Expansion! Wer wollte daran zweifeln?
ersetzen Sie doch einfach den Firmenname, weil die anderen sind genauso erfolglos bzw. auf der Suche bzw. machen dies nun Jahre später nach.
Die deutschen Betreiber, bekommen ebenso keine vernünftige App hin, ganz zu schweigen von der Warenverfügbarkeit und dies im stationären Handel.
Zusammenfassend es branchenüblich (oder gar branchenübergreifend).
Und was haben sie alle gezittert bei dem Markteintritt von Amazon Fresh hier bei uns. Konzepte, Social Media BLAH, zusammengeschusterte Bring- und Lieferservices. Ich habe wie immer recht behalten, kann mir aber nichts davon kaufen.
Kein Wunder!
Amazon versucht sich hier in einem Markt, in dem mit extrem harten Bandagen gekämpft wird ohne auch nur über rudimentäre Erfahrungen in diesem Umfeld zu verfügen. Noch dazu werden gleichzeitig verschiedene internationale Märkte angegangen, die aber alle nach eigenen Gesetzen ticken und untereinander keine Gemeinsamkeiten aufweisen. Ein riskantes Spiel mit hohem Einsatz. Und warum auch nicht? Spielgeld ist ja in ausreichender Menge vorhanden.
Ich will hoffen, dass der stationäre LEH die Herausforderung dennoch annimmt und seine Prozesse optimiert. Der flächendeckende Einsatz von RFID (mit gleichzeitig funktionierendem Datenschutz für Kunden) lässt schon viel zu lange auf sich warten.
Wenn dann noch gut an Verbraucherwünsche angepasste Lieferdienste angeboten werden, ist es mir um die Zukunft des hiesigen Lebensmittelangebots nicht bange. Erbost breit genug aufgestellt, um einem Anfänger wie Amazon die Stirn zu bieten.