Was passiert, wenn technologische Vorstellungskraft auf die Einkaufsrealität von Benutzer:innen trifft, lässt sich besonders schön am Beispiel der Pick-&-Go-Märkte beobachten, in die zahlreiche Lebensmitteleinzelhändler derzeit zukunftsinvestieren: Jeder neu eröffnete Markt sieht wieder etwas anders aus als der vorherige, weil sich Handelsketten und Entwickler quasi in Echtzeit dem Verhalten der Kund:innen anpassen (müssen).
Den vorübergehend aktuellen Stand bildet Rewe mit seinem Pick-&-Go-Markt in Hamburg-Eimsbüttel ab, der seit Juli in vollem Umfang für alle Nutzer:innen zugänglich gemacht wurde:
„[M]it 1.200 Quadratmetern ist der neue REWE Pick&Go Markt in Hamburg Hoheluft West nicht nur der erste seiner Art in ganz Norddeutschland, sondern auch der größte Computer Vision gestützte Markt Europas!“
Dort setzt Rewe die zuvor erprobte Praxis fort, Kund:innen die Wahl zu lassen, ob und wie sie mit Technologie-Unterstützung einkaufen wollen:
- mit automatischer Abrechnung, ohne an die Kasse zu müssen (mit App),
- per automatischer Auflistung der erkannten Artikel an der SB-Kasse,
- an der SB-Kasse, indem Artikel selbst gescannt werden,
- oder wie überall sonst: an der Bedienkasse.
Drei Spuren zum Ausgang
In Hamburg wird auch besonders gut deutlich, was dieses Procedere für das Markt-Layout bedeutet: Um den Eingang offen halten zu können, wurde die bisherige Check-in-Pflicht abgeschafft und mittels Check-out ans Ladenende verlegt.
Dort gibt es nun drei Spuren, auf die Kund:innen einbiegen können, um sich für eine Zahlart zu entscheiden (Foto, via LinkedIn): Ganz links für registrierte Nutzer:innen der Pick-&-Go-App, die komplett kassenlos einkaufen wollen („Mit der App hier rausgehen“); in der Mitte an sechs SB-Kassen, die anbieten, die aus den Regalen genommenen Artikel automatisch aufzulisten, um sie per Karte zu bezahlen; oder ganz rechts an der einzigen Bedienkasse, an der sich auch barzahlen lässt.
Im wenige Wochen zuvor offiziell in Betrieb genommenen Düsseldorfer Rewe Pick & Go (750 Quadratmeter Verkaufsfläche, 18.000 Artikel im Sortiment) ist das ganz ähnlich, nur unter verschärften Platzbedingungen.
Am Marktende müssen sich Kund:innen entweder in die Schlange für App und Self-Check-out links oder die für die Bedienkasse rechts einfädeln.
„Alles schon gebongt“ an der SB-Kasse
Mit der App geht man einfach bis zur Auslasschranke vor und scannt dort den angezeigten Barcode, um rausgehen zu können; wer zuvor lieber an der regulären SB-Kasse bezahlt, erhält dort über den ausgegebenen Bon einen scanbaren Code.
Rewe hofft, mit diesen Wahlmöglichkeiten vielen Nutzungssituationen gerecht zu werden – „hybrides Einkaufen mit kassenloser Bezahlmöglichkeit auf neuer Stufe“, heißt das in Köln. Gleichzeitig wird dadurch aber auch immer unübersichtlicher, wie die Märkte funktionieren.
Vor allem aber will man mit der automatischen Auflistung der Waren an der SB-Kasse die Pick-&-Go-Technologie auch für Kund:innen nutzbar machen, die keine Lust haben, sich für ihren Einkauf extra zu registrieren. Im und am Markt wirbt man deswegen mit dem Versprechen:
„Einfach clever! Alles schon gebongt. Jetzt an der SB-Kasse.“
Wer damit Übung hat, lässt sich nachher vielleicht ja doch noch zur App-Registrierung konvertieren:
„Noch schneller geht’s nur mit der App – ohne Kasse!“
(Damit das von den Nutzer:innen nicht als Schritt zurück empfunden wird, weil sie ihre eingekauften Waren derzeit per E-Bon erst nachträglich gepusht kriegen, verspricht Rewe nun, dass die Echtzeit-Warenerfassung „perspektivisch (…) auch in der Pick&Go-App eingebunden werden“ soll.)
Zu viele Ungenauigkeiten
Tatsächlich ist die Warenübertragung vom System, das inzwischen die Einkäufe aller den Markt betretenden Kund:innen erfasst, ein interessanter Knackpunkt. Denn damit lässt sich nun ungefiltert erkennen, wie gut die Kamera- und Sensoren-gestützten Systeme tatsächlich arbeiten, wenn es keine nachträgliche Korrekturmöglichkeit mehr gibt, bei der Mitarbeiter:innen in Zweifelsfällen anhand von Videoaufzeichnungen entscheiden, was Kund:innen in Rechnung gestellt kriegen (siehe Supermarktblog).
Mein (sehr überschaubarer) Test im Düsseldorfer Markt, für den ich an der SB-Kasse den Warenübertrag gewählt habe, offenbarte gleich mehrere Schwachstellen:
Das von der Kasse aufgelistete „SW Hähnchen“ (Sandwich) lag ganz offensichtlich nicht in meinem Einkaufskorb. (Es erfolgt also nach der Regalentnahme keine weitere Kamera-Überprüfung beim Gang durch den Markt.)
Die aufgelistete Bio-Gurke war in der Obst- & Gemüse-Abteilung von mir wieder zurückgelegt worden.
Die Reiswaffelsnacks, die ich im Laden vom Rollwagen genommen hatte, aus dem neue Ware ins Regal geräumt wurde, fehlten (erwartbarerweise).
Bald grammnegnaue Erfassung bei Entnahme?
Die Bio-Banane auch – weil ich vergessen hatte, sie vorher abzuwiegen, was (zum Zeitpunkt meines Besuchs) für bestimmte Artikel aus der Obst- und Gemüseabteilung nach wie vor notwendig war (für Ware, die nach Gewicht abgerechnet wird, z.B. Bananen, nicht aber für die stückweise erfasste, z.B. Avocado oder Salatgurken).
Das dürfte sich vermutlich noch ändern: An den Regalen der Abteilung waren bereits große Displays mit dem Logo des Waagenherstellers Mettler Toledo angebracht. Höchstwahrscheinlich plant Rewe, Obst und Gemüse künftig bereits bei der Entnahme grammgenau zu erfassen – so wie es Netto (ohne Hund) mit Trigo und Mettler Toledo im Testmarkt in Regensburg vormacht (siehe Supermarktblog).
An der SB-Kasse lassen sich solche Fehler nun direkt korrigieren. Mutigerweise blendet Rewe auf dem Screen dafür Mülltonne-Symbole neben den übertragenen Artikeln ein, mit denen diese gelöscht werden können, falls sie irrtümlich dort gelistet sind. (Das ist sonst ein echtes SB-Kassen-Tabu, damit die Leute nicht erst scannen und dann extra wieder löschen.)
Außerdem fragt die Kasse: „Haben wir etwas vergessen? Dann scann [sic] die Artikel bitte selbst“.
Das zur Assistenz bz. Beaufsichtigung eingeteilte Marktpersonal war nicht weiter erstaunt von den notwendigen Korrekturen bei meinem Einkauf. Kommentar: „Direkt nach der Eröffnung war alles noch viel schlimmer.“
Zeitbeschleuniger für Unkompliziertes
Ich hab dennoch keine Zweifel, dass dieses Verfahren bei unkomplizierten Einkäufen eine Zeitbeschleunigung bedeuten kann, weil sich im Idealfall komplett aufs Scannen verzichten und direkt zum Bezahlen übergehen lässt. Und dass die Systeme inzwischen auch Pfandbeträge, Artikel von der Bedientheke (Bodenaufkleber im Befehlston: „Hier Einkauf annehmen“), abgewogene Salate aus der Salattheke und Sushi automatisch erfassen können, ist beeindruckend.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Trigo-Technologie erschreckend schnell an ihre Grenzen gerät, sobald Kund:innen nicht roboterhaft standardisiert einkaufen (was die allerwenigsten tun dürften). Zahlreiche Einkaufssituationen kann sie derzeit nicht hundertprozentig verlässlich abbilden.
Mit dem Zurücklegen von Artikeln gibt es Probleme; wenn ein gewünschter Artikel im Regal fehlt, was oft vorkommt, kann man ihn nicht vom daneben stehenden Rollwagen nehmen, weil er dann nicht erfasst wird; Obst und Gemüse muss mal gewogen, und mal nicht gewogen werden; außerdem werden Artikel im Regal, unter denen auf dem elektronischen Preisetikett kein Barcode steht, vom System komplett ignoriert und nicht berechnet (zum Nachteil des Händlers).
Jedes mal zur Nachkontrolle
Bei automatisierter Abrechnung machen diese Unzulänglichkeiten fast jedes Mal eine Nachkontrolle des E-Bons nötig; an der SB-Kasse lassen sie sich zwar sofort korrigieren – von der erhofften Zeitersparnis bleibt dann aber kaum was übrig.
„Schneller, komfortabler und einfacher kann ein Einkaufsvorgang aktuell kaum sein“, behauptet Rewe für Pick & Go. Aber das stimmt so einfach nicht. So wohlklingend die Versprechen des KI-unterstützen Einkaufs auch sein mögen: In der Praxis erweisen sie sich bislang vielfach als Trugschluss, weil sie längst nicht so perfekt funktionieren, wie es Händler, Technologie-Start-ups und die sehr zahlreichen Branchen-Claqueure auf LinkedIn suggerieren.
Das ist ein Problem. Allerdings eines, dass der Großteil der Selbstkritik-allergischen Branche derzeit geflissentlich zu ignorieren bereit ist, um sich mit der ungeheuren Innovationskraft schmücken zu können, die einem die Systeme verleihen.
Komplizierter zu navigieren
Nochmal anders formuliert: Auf dem bisherigen Stand ist die Technologie nicht gut genug, um den alltäglichen Lebensmitteleinkauf tatsächlich einfacher zu machen. Sie sorgt vielmehr dafür, dass Märkte komplizierter zu navigieren werden und verlangt – je nach Nutzungszenario – unterschiedliche Aufmerksamkeitsprämissen von ihren Nutzer:innen.
Ob sich so die (immer noch aufwändige) Nachrüstung der Märkte mit Kameras und Sensoren tatsächlich rentiert, lässt sich durchaus anzweifeln – egal, wie zukunftszugewandt man sich als Händler damit geben kann.
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Die Rentabilität zweifel ich schon immer an, angesichts der erheblichen Investitionen und zuletzt auch durch die zusätzlichen indischen Überwachungs-Center. Das scheint mir wirtschaftlicher Irrsinn zu sein, zugegeben nur aus Bauchgefühl. Aber solange die Produkte dort nicht teurer sind als im herkömmlichen 😉 Rewe, macht so ein Besuch im Test-Supermarkt einfach Spaß, wenn man mal Unterhaltung möchte. Als Micro-Alternative zu Escape-Room, Freizeitpark oder so. Und man hat was zu erzählen. An das roboterhafte Einkaufen gewöhnt man sich schon, das sind halt die Spielregeln, und dann funktioniert das ziemlich gut, aber gerade das Produkte-Entnehmen aus dem Rollwagen ist auch meine Schwachstelle… Dumm nur, wenn sich die TikTok-Challenge „wer am meisten aus dem Rewe rausschmuggeln kann“ durchsetzt!