Es war einmal Erlebniseinkauf? Wie Corona dm zum Strategiewechsel zwingt

Es war einmal Erlebniseinkauf? Wie Corona dm zum Strategiewechsel zwingt

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Kaum eine andere deutsche Handelskette hat zuletzt so sehr die Eröffnung neuer Filialen forciert wie dm. Die Krise macht ein Umdenken nötig. Inzwischen wird die Kommunikation mit Kund:innen per App immer wichtiger.

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Zur Jahrespressekonferenz vor anderthalb Wochen hat dm-Geschäftsführer Christoph Werner einen – für sein Unternehmen – bemerkenswerten Satz gesagt. Die Frage ist: Hat er ihn auch so gemeint?

Der Satz lautet:

„Der Bedarf von Kunden lässt sich künftig – im Zusammenspiel mit Online- Handel – womöglich grundsätzlich auch mit weniger stationären Filialen decken, solange die richtigen Standorte ausgewählt worden sind.“

Weniger Filialen? Beim König der Stationärdrogeriemarkt-Expansion? Bemerkenswert ist das vor allem, weil kaum eine andere deutsche Handelskette zuletzt so sehr die Eröffnung neuer Filialen forciert hat wie dm – im Zweifel auch an Orten, wo definitiv kein neuer Drogeriemarkt mehr gebraucht worden wäre (siehe Supermarktblog).

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dm wächst, aber langsamer

Im Laufe der vergangenen zwölf Monate sind weitere 27 Märkte (verrechnet mit Umzügen und Schließungen) hinzu gekommen. Aktuell gibt es 2.024 dm-Filialen in Deutschland. Die Umsätze des im September zu Ende gegangenen Geschäftsjahres sind zwar erneut gestiegen, von 8,37 auf 8,54 Mrd. Euro (ohne das Auslandsgeschäft). Das Wachstum allerdings ist deutlich geringer ausgefallen als in den Vorjahren – obwohl die Filialen selbst im Frühjahr während des ersten Lockdowns durchgehend geöffnet bleiben konnten und Drogeriemärkte während der Pandemie zu den Grundversorgern gehören.

Über diese Grundversorgung allerdings ist dm mit seiner expansiven Strategie schon längst hinausgewachsen.

Zuletzt hat sich das Unternehmen zunehmend als Erlebniseinkaufanbieter positioniert, eine Anlaufstelle für alle, die u.a. aus Zeitvertreib in die Innenstädte strömen, dort essen gehen und irgendwann fast automatisch im Drogeriemarkt landen, um noch ein paar Besorgungen zu machen oder einfach durch die Regalreihen zu schlendern und sich was Besonderes zu gönnen. Ein Einkaufssamstag ohne dm? Unvorstellbar!

Die Kundschaft kommt seltener

In diesem Jahr war das anders. Kund:innen, die Zahnpasta, Waschmittel und Deo brauchten, kauften die Artikel oft einfach gleich im Supermarkt, um während Corona in möglichst wenige Läden gehen zu müssen. Innenstädte blieben über viele Wochen leer, an Bahnhöfen und Verkehrsknotenpunkten war weniger Betrieb. Dazu waren bestimmte Warengruppen – dekorative Kosmetik oder Haarfärbemittel – während des Lockdowns im Frühjahr so gut wie gar nicht gefragt.

Derweil blieben die Lebensmittelregale in vielen dm-Märkten während der Hamsterkaufphase aufgrund des hohen Eigenmarkenanteils gefühlt noch länger leer als bei der Konkurrenz, weil die Hersteller gar nicht so schnell nachproduzierten konnten (siehe Supermarktblog).

Die „Lebensmittel Zeitung“ (Abo-Text) attestierte dm kürzlich ein „Frequenz-Problem“ und berief sich auf „Marktdaten“, denen zufolge dm von März bis September 8 Prozent Frequenz verloren habe. (Wohingegen es beim Wettbewerber Rossmann nur mehr als 3 Prozent gewesen seien.) Das könnte auch daran liegen, dass an den von dm zahlreich betriebenen Grenzstandorten Kund:innen fehlten, die sonst aus den Nachbarländern zum Einkaufen kommen.

Einbußen in Südbaden und Saarbrücken

Gegenüber dem „Südkurier“ sagte die dm-Gebietsverantwortliche für Südbaden, Corona habe dm in ihrer Region „voll erwischt“. In den 40 Filialen im Raum Konstanz, Jestetten und Bodensee-Oberschwaben seien die Umsätze im abgelaufenen Geschäftsjahr um 6,4 Prozent gesunken. (Zum Vergleich: Bundesweit ist dm um 2,8 Prozent gewachsen.) Verantwortlich dafür sei u.a. „eine gebremste Einkaufslust“ insbesondere der Schweizer Kund:innen, die sonst regelmäßig zum Einkaufen anreisen. (Und zahlreiche Konstanzer:innen die dann übervolle Innenstadt meiden lassen.) Die Eröffnung neuer Märkte im Süden sei „derzeit daher auch kein Thema bei dm“, schreibt der „Südkurier“ weiter.

In der französischen Grenzregion sieht die Situation ähnlich aus. Der Gebietsverantwortliche für das Saarland bestätigte gegenüber der „Saarbrücker Zeitung“ (Abo-Text) einen Umsatzrückgang von 2,8 Prozent für sein Bundesland. „50 Prozent der Kunden in grenznahen Märkten seien üblicherweise Franzosen, in Saarbrücken rund 30 Prozent.“

Das ist eine ungewohnte Situation für ein Unternehmen, das in den Jahren seit der Schlecker-Pleite daran gewöhnt war, Jahr für Jahr immer weiter wachsen zu können – und den Kund:innen dafür lediglich ausreichend Standorte anbieten zu müssen.

Hallo, wir sind auch noch da!

2020 ist das Jahr, in dem diese Selbstverständlichkeit plötzlich nicht mehr gilt. Plötzlich wirbt dm an Litfaßsäulen, und seit Sommer läuft ein Werbespot im Fernsehen, in dem die Handelskette weder Sortimente noch besondere Services hervorhebt, sondern einfach – sich selbst. „Alles, was das Leben besser macht…“, heißt das Versprechen zum Schluss. „Hallo, wir sind auch noch da“ hätte aber fast noch besser gepasst.

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Corona hat das Konzept des stark auf den stationären Einkauf fokussierten Erlebnisdrogeriemarkts ziemlich in die Knie gezwungen. Und was gerade niemand so richtig beantworten kann, ist: Bleibt das so? Und falls ja, wie lange?

Wenn der Betrieb in den Innenstädten dauerhaft zurückginge, „müssten Einzelhandelsunternehmen wie wir ihr Geschäftsmodell anpassen“, erklärte dm-Chef Werner im Frühjahr der „Lebensmittel Zeitung“ und überlegte laut, „ob das, was wir gerade erleben, ein Vorbote oder der Ausnahmefall ist“. In Karlsruhe hofft man auf den zweiten Fall – und bereitet sich zunehmend auf den ersten vor.

Glück im Unglück

Das Glück im Unglück besteht darin, dass dm schon damit angefangen hat, bevor es Corona dazwischen funkte. Seit zwei, drei Jahren führt Christoph Werner – der 2019 nach dem plötzlichen Abschied von Erich Harsch die Leitung des Unternehmens übernahm – dm Schritt für Schritt aus der anfänglichen Online-Ignoranz heraus.

Er glaubt, dass Online-Shopping „einen echten Schub bekommen“ könnte, vor allem, wenn sich der Trend zu häufigerem Homeoffice auf Dauer durchsetzen sollte: „Vielleicht kommt man gar nicht mehr an den Einkaufszentren wie bisher vorbei“, sagte Werner der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ im Juli. Und zur Pressekonferenz vor zwei Wochen erklärte er, das Ziel von Unternehmen müsse es sein, „antifragiler“ zu werden:

„Denn antifragile Systeme zeichnet aus, dass sie durch Störungen – also das Unvorhergesehene – nicht geschwächt werden, sondern in der Auseinandersetzung mit diesen besser werden. Sie werden besser, weil sie die unverhofften Potenziale in der neuen Situation erkennen.“

Stärkere Kundenbindung per App

Aus dm-Sicht scheint dieses Potenzial vor allem in einer engeren Bindung seiner Stammkundschaft an die Marke zu bestehen. Dafür baut das Unternehmen derzeit die Services seiner Mein-dm-App aus, die dmTech-Geschäftsführer Roman Melcher kürzlich auf dem EHI Payment-Kongress als „fundamentalen Baustein unserer Entwicklungsstrategie“ bezeichnete.

Die App soll dabei helfen, regelmäßigen Käufer:innen personalisierte Angebote zu machen, die zu einer höheren Kaufwahrscheinlichkeit führen als nicht-personalisierte. Nutzer:innen können Merklisten für ihre Lieblingsprodukte anlegen, die Warenverfügbarkeit im Markt ihrer Wahl überprüfen, Payback-Coupons einlösen, mit Payback Pay an der Kasse bezahlen. Vor allem aber können sie damit: einkaufen.

Sebastian Bayer, als dm-Geschäftsführer verantwortlich für das Ressort Marketing + Beschaffung, erläutert auf Supermarktblog-Anfrage:

„Wir stellen fest, dass Onlineshopping und die Verknüpfung von online und stationär zunehmend an Bedeutung gewinnt. Corona verstärkt diesen Effekt, was nicht nur uns betrifft, sondern den Handel generell. Aus unserer Sicht besteht hier weniger die Frage des entweder oder, sondern eher, wie wir die Kanäle optimal miteinander verknüpfen können, um für die individuellen Kundenbedürfnisse Lösungen anzubieten.“


Screenshots [M]: dm/Smb

Bislang wurde die App 3,7 Millionen Mal auf Smartphones installiert. Das Unternehmen verzeichnet nach eigenen Angaben rund zwei Millionen Nutzer:innen pro Monat mit – ebenfalls im Schnitt – zehn Sessions. Aussagekräftige Angaben zum Anteil des Online-Geschäfts am Gesamtumsatz macht dm (weiterhin) nicht. dm-Chef Werner bekräftigt auf Anfrage lediglich:

„Die vergangenen Monate haben gezeigt, dass Kunden vermehrt online einkaufen, sodass die Entwicklung des Onlineshops dm.de sehr positiv verlief und sich der Umsatz verdoppelt hat.“

Mehr als eine Million Kund:innen hätten die App bislang zum Einkaufen genutzt; fast die Hälfte des Umsatzes gehe auf App-Bestellungen zurück.

Filialen helfen beim Packen der Online-Bestellungen

Im Frühjahr ist das zur Herausforderung geworden. Damals stieg die Nachfrage nach online bestellbaren Drogerieartikeln und Lebensmitteln so schnell so stark an, dass es im dm-Zentrallager zu Engpässen kam – während zahlreiche der gewünschten Produkte an den leer bleibenden Filialstandorten weiter vorrätig waren. dm verlagerte das Packen der Online-Einkäufe deshalb kurzerhand in Filialen, die deutliche Besuchsrückgänge zu verzeichnen hatten, etwa in den oben genannten Grenzregionen.

Zu Spitzenzeiten seien auf diesem Weg die Hälfte der Online-Bestellungen (unabhängig von ihrem Zielort) gepackt worden, berichtet dm-IT-Chef Melcher. Dadurch hätten die betroffenen Markt-Mitarbeiter:innen nicht in Kurzarbeit geschickt werden müssen.

Um auch wirklich alle Produkte vorrätig zu haben, sei die Zahl der Online-Exklusivartikel vorübergehend zurückgefahren worden. Die größte Schwierigkeit habe darin bestanden, ausreichend Kartonagen zum Packen in die Filialen zu bringen.

Mit der „Express-Abholung“ versucht dm inzwischen, die Ausnahme von damals ein Stück weit in die Normalität zu überführen: Kund:innen, die online bei dm einkaufen, können die bestellten Produkte auf Wunsch nach wenigen Stunden und in der Regel noch am selben Tag in der Filiale ihrer Wahl abholen.

Rabatte unterlaufen den „Dauertiefpreis“

Das funktioniert – je nach Standort – ziemlich gut (siehe Supermarktblog). Und könnte in Zukunft dabei helfen, Kund:innen zu halten bzw. zurückzugewinnen, die Drogerieartikel sonst einfach im Supermarkt mitkaufen würden.

Wie sehr dm diese Umsätze braucht, zeigt sich auch daran, dass die Handelskette über die App zunehmend eines ihrer konzeptionellen Heiligtümer unterläuft: das Dauertiefpreis-Versprechen („Bei dm können Sie dank des dm-Dauerpreises jeden Tag günstig einkaufen und müssen nicht nach kurzzeitigen Angeboten suchen“). Rabatt-Coupons für ausgewählte Produkte, zum Teil aber auch ganze Sortimente gehören – Kund:innen-indivduell ausgespielt – inzwischen fest zum Service-Angebot, auch unabhängig von Payback.

Teilweise gibt es pauschale Vergünstigungen von 15 Prozent auf das komplette Lebensmittelangebot und Zahnpflegeprodukte oder „5€ als Dankeschön“ beim Einkauf von Beauty-Produkten für mindestens 20 Euro. Damit schwenkt dm ein Stück weit auf die Aktionspreispolitik der Wettbewerber ein – nur halt exklusiv für App-Benutzer:innen.

Der Bummeleinkauf von früher lässt sich damit freilich nicht ausgleichen; und auf längere Sicht wird es sich auch dm kaum leisten wollen, teure Innenstadt-Standorte vorrangig als Packlager zu betreiben. Dazu kommt, dass der Fachhandel mit Drogerieartikeln in Deutschland auch vor Corona bereits langsam an seine Wachstumsgrenzen zu kommen schien.

Mehr Lagerplatz, weniger Wickeltisch?

Daran dürfte sich nach dem Ende der Pandemie wenig ändern. Vor allem die Supermärkte haben gemerkt, dass sie sich mit einem besseren Drogerieartikel-Sortiment durchaus Umsätze aus den Fachmärkten zurückholen können. Und wenn der Online-Einkauf samt Schnellabholung tatsächlich zur Gewohnheit wird, braucht es womöglich weniger große Filialen mit Wickeltischen und Wohlbühl-Ambiente, sondern vor allem: mehr Platz, um Bestellungen zwischenzulagern.

In der vorgegangenen Woche hat dm-Chef Werner versprochen, dm wolle „die Wünsche unserer Kunden feinfühlig wahrnehmen“.

Ob das auch dann gilt, wenn sich diese Wünsche nicht mehr mit dem bislang in Karlsruhe forcierten Erlebnisdrogerieeinkauf decken, bleibt erstmal Werners Geheimnis. Auf die Supermarktblog-Frage, ab welchem Punkt er glaube, dass sich eine weitere stationäre Expansion erübrigen würde, antwortet der dm-Chef:

„Wir bei dm haben keine Zielvorgaben, dies schließt auch Neueröffnungen von dm-Märkten ein. Wir möchten immer dort sein, wo auch unsere Kunden sind und richten danach ebenso unsere Expansionsstrategie aus.“

Fotos: Supermarktblog"

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6 Kommentare
  • Oben steht 8,5 Mio € Umsatz im Geschäftsjahr. Das wären bei 2000 Filialen nette 4000€ Umsatz pro Filiale im Jahr. Das kann doch nicht stimmen…

  • Eine Möglichkeit für DM seinen Umsatz zu stützen, wäre Online-Bestellungen auch ins (europäische) Ausland zu ermöglichen. Der Zusatzaufwand müsste sich zumindest im EU Binnenmarkt doch sehr in Grenzen halten. Habe in den Niederlanden, Belgien, Irland und UK gelebt und DM dort sehr vermisst.

    • Die Ware müsste allerdings in den jeweiligen Ländern verkehrsfähig deklariert sein, was doch einen nicht unerheblichen Mehraufwand bedeutet, wenn man in diesen Ländern normalerweise nicht unterwegs ist.

    • Danke! Wieder was gelernt. Kurze Recherche gemacht und gesehen, dass zumindest bei Lebensmitteln jetzt die EU Verordnung 2019/516 gilt, wonach Produkte die in einem EU-Land rechtmäßig hergestellt wurden, grundsätzlich überall als verkehrsfähig anerkannt werden sollten. Spezifisch zu Drogerieartikeln habe ich nichts gefunden. Insgesamt schade – ich dachte der Binnenmarkt wäre schon weiterentwickelt.

  • Wickelkommoden, Wasserspender und Schaukelpferde sind (außerhalb von kontaktbeschränkenden Pandemiemaßnahmen) natürlich bei dm nicht nur Wohlfühlambiente, sondern einfach Umsatzbringer, denn ein großer Teil der Zielkundschaft hat kleine Kinder. Und wenn man mit denen mal den Monatsdrogerieeinkauf macht, klappt das mit mehreren Erwachsenen, die sich abwechseln können, einfach besser.
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    Also traf man sich mit ein, zwei befreundeten Familien, um nach dem Spielplatz oder vor dem Abendessen beim dm vorbeizuschauen. Und da kleine Menschen, denen man noch die Windel wechseln muss, von den meisten Einzelhändlern und Gastronomen sowieso schon wie Aussätzige behandelt werden, nimmt man garantiert die Filiale mit Kundentoilette und Wickeltisch.
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    Sollte dm das jetzt nach der Pandemie für unnötig erachten, kommt die Zielgruppe wahrscheinlich gar nicht mehr von den Amazon-Familienabos zurück. So viel Leichtsinn passt nicht zu dm.

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