Work in progress: Amazons Lebensmittel-Strategie in Europa

Work in progress: Amazons Lebensmittel-Strategie in Europa

Foto: Amazon UK
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Bei seiner Expansion in den Lebensmitteleinzelhandel hat Amazon in Europa eine Herangehensweise gewählt, die sich von der im Heimatmarkt unterscheidet: Kooperationen spielen – zumindest vorerst – eine sehr viel größere Rolle. Ein Überblick.

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Seit Jahren hört der europäische Lebensmitteleinzelhandel: Amazon kommt, zieht euch warm an! Aber Amazon kam gar nicht, jedenfalls nicht so richtig gut aus den Startlöchern. Das ändert sich gerade – wenn auch anders als in der Branche lange vermutet wurde.

Bei seiner Supermarktwerdung verfolgt der Konzern eine bislang schwer durchschaubare Strategie. (Von der nicht ganz klar ist, wie oft sie sich zwischenzeitlich geändert hat.) Derzeit sieht es so aus, als habe man sich beim Aufbau des Lebensmittelgeschäfts in Europa für eine angepasste Herangehensweise als in den USA entschieden. Aber das kann angesichts zahlreicher Hakenschläge in der Vergangenheit morgen schon wieder ganz anders aussehen. Trotzdem lohnt es sich, etwas Ordnung in das Durcheinander zu bringen.

Was bisher geschah:

In den USA wurde Amazon nach der Übernahme der Biomarktkette Whole Foods Market im Jahr 2017 quasi über Nacht zum stationären Lebensmitteleinzelhändler – und konzentrierte sich im Anschluss darauf, die erworbenen Läden für sein Mitgliederprogramm Prime und die Lebensmittel-Sofortlieferung umzurüsten (auch, wenn dafür das ursprüngliche Konzept verbogen werden musste).

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Zugleich zeichnete sich ab, dass sich Amazon im Heimatmarkt nicht bloß auf Whole Foods verlassen würde. In Großstädten eröffneten erste Filialen der kassenlosen Convenience-Store-Kette Amazon Go.

Im vergangenen Jahr machte der Konzern dann seinen Lieferdienst Fresh auch zur stationären Ladenkette, mit der Kund:innen gewonnen werden sollen, die nicht mehrheitlich Bio-Produkte einkaufen (siehe Supermarktblog). Der erste Laden eröffnete in Woodland Hills bei Los Angeles; seitdem sind noch eine Handvoll mehr dazu gekommen, oftmals auf Flächen insolvent gegangener Handelsketten, die sich nicht rechtzeitig gegen die zunehmende Dominanz des Online-Handels (sprich: Amazon) zu wehren wussten. Bloomberg berichtet aktuell von weiteren 28 möglichen Fresh-Standorten.

Zunehmend breitet sich Amazon mit Fresh auch in Innenstädten und neu gebauten Wohnkomplexen aus, wo – wie in Seattle – ursprünglich Whole Foods hätte einziehen sollen.

Das Ziel ist ein möglichst flächendeckendes Netz an Märkten, in denen moderne Technologien Kund:innen den stationären Einkauf bequemer gestalten sollen, die gleichzeitig als Anlaufstelle bzw. Umschlagplatz für die restliche Amazon-Welt funktionieren und aus denen sich Lebensmittel schnell in die Nachbarschaft liefern lassen. Dafür hat das Unternehmen laut Bloomberg Expert:innen aus der Branche zu sich geholt, die zuvor u.a. für Walmart, Starbucks und Lidl tätig gewesen sein sollen.

Und in Europa?

1. Der Lieferdienst

Lange hat’s gedauert, aber jetzt scheint Amazon es mit der Ausweitung seines Lebensmittel-Lieferdiensts Fresh ernst zu meinen. Bislang war der Service in Großbritannien und Deutschland verfügbar, und dort auch nur in einigen wenigen Metropolen.

Seit kurzer Zeit können sich nun auch Kund:innen in Madrid und Mailand von Amazon den Wocheneinkauf nachhause bringen lassen. Rom soll als nächstes an der Reihe sein, und bis Ende des Jahres könnten Kund:innen in ganz Spanien beliefert werden, berichtet „Retail Detail“. Außerdem steht Polen, wo Amazon gerade erst gestartet ist, auf der Liste, schreibt IGD. Die zeitnahe Lieferung frischer Lebensmittel mit Amazon Fresh – am selben oder darauffolgenden Tag – ist sozusagen die Grundlage der ambitionierten Verwandlung zum Lebensmitteleinzelhändler.

Als konsequenter nächster Schritt muss deshalb eine Ausweitung des Lieferradius in den bisherigen Stammländern erfolgen. In Großbritannien ist Amazon schon dabei; Deutschland müsste in dieser Logik eigentlich als nächstes folgen.

Schon seit mehreren Wochen kämpft Fresh in Berlin mit massiven Verfügbarkeitsproblemen, Zeitfenster sind weniger leicht buchbar als Kund:innen das bisher gewohnt waren. Das könnte darauf hindeuten, dass im Hintergrund an der Expansion gearbeitet wird.

2. Die stationären Läden

Anfang März hat im Londoner Westen der erste Amazon-Fresh-Store Europas eröffnet – und er unterscheidet sich massiv von seinem amerikanischen Vorbild. Der Laden am Eingang des Shopping Centers im Stadtteil Ealing ist deutlich kleiner, dafür funktioniert er vollständig mit Amazons kassenloser „Just walk out“-Technologie, die seit einiger Zeit auch loses Obst und Gemüse sowie frische Backwaren erkennen und der jeweiligen Käuferin bzw. dem jeweiligen Käufer zuordnen kann.

Ursprünglich hätte der Laden wohl unter dem Amazon-Go-Banner starten sollen; erste Eröffnungen des Convenience-Formats in London waren bereits für die Zeit von Corona erwartet worden. Stattdessen hat Amazon dem Go-Kozept nun das Fresh-Banner übergestülpt: Für den Einlass scannen Kund:innen einen QR-Code, der sich im Einkaufswagen (!) ihrer regulären Amazon-App versteckt.

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Anschließend können sie regulär einkaufen und den Laden verlassen; der vom System errechnete Betrag wird automatisch von ihrem Konto abgebucht.

Mit 230 Quadratmetern Verkaufsfläche ist der erste stationäre Amazon Fresh in Großbritannien weit entfernt von den US-Filialen, passt sich damit allerdings der für britische Städte üblichen Einkaufsgewohnheit an, sich an fast jeder Ecke schnell mit einer begrenzten Auswahl an Lebensmitteln versorgen zu können.

Am Eingang gibt es Obst, Gemüse und Blumen; in der rechten Ladenhälfte ist das umfangreiche Convenience-Sortiment untergebracht, dessen „Meal Deal“-Angebot (1 Sandwich oder Salat + Snack + Drink für 1 Pfund extra) sich Amazon eins zu eins im Markt abgeschaut hat. Der Laden ist auffällig mit weiteren Angeboten gespickt („2 for £6“, „Stir Fry Deal“). Es gibt eine gut sichtbar inszenierte „Meals for Tonight“-Auswahl, ein Regal mit Warmhaltegerichten („Amazon Hot“), ein Regalende ist reserviert für Backwaren der lokalen Bäckerei The Flour Station („Baked Daily in London“); außerdem ist ein winziger Amazon-Hub-Schalter zwischen die Regale gequetscht, an der Amazon-Bestellungen abgeholt oder zurückgegeben werden können.

Eben dort holt bekommt man als Kund:in auch rezeptfreie Medikamente, wie „Business Insider“ aufgefallen ist. Wer Alkohol einkauft, wird vom Fresh-Personal gebeten, seinen Ausweis für die notwendige Alterskontrolle vorzuzeigen.

Einkaufswagen oder Einkaufskörbe gibt es nicht – die Ware soll direkt in Tüten oder Taschen gepackt werden. Das hat den Nebeneffekt, dass vor dem Verlassen des Markts nichts mehr umgepackt werden muss und unterstreicht das Gefühl der Zeitersparnis, auf das Amazon abzielt.

Weitere Fresh-Standorte in London sollen kurz vor der Eröffnung stehen, „The Grocer“ (Abo-Text) berichtet u.a. von einer Fläche ganz in der Nähe (Notting Hill Gate). Ob Amazon Go als Konzept überhaupt nach Europa geholt wird, ist damit fraglich. Stattdessen könnte sich der Konzern darauf einstellen, Fresh zum dominierenden stationären Format zu machen – auch auf kleineren Flächen, die insbesondere in europäischen Innenstädten (und anders als im Heimatmarkt) die Norm sein dürften.

In den USA hatte Amazon im Vorjahr noch die ersten beiden Filialen des Amazon-Go-Grocery-Formats eröffnet, das zwischen Go und Fresh angesiedelt war.

In Großbritannien betreibt Amazon zudem bereits mehrere (sehr unterschiedlich große) Whole-Foods-Märkte, deren Zukunft unklar ist.

Foto: Supermarktblog

Der Erwerb weiterer Handelsketten dürfte, um sich schnell eine attraktive Zahl an Standorten zu sichern, nicht ausgeschlossen sein, scheint derzeit aber für Amazon keine Priorität zu haben. Für eine zügige Umsetzung funktioniert der europäische Lebensmitteleinzelhandel ohnehin zu heterogen. Daher scheint man sich in Europa – zunächst – für einen anderen Weg entschieden zu haben: Kooperieren statt kaufen.

3. Die Kooperationen

In den vergangenen Jahren hat der Konzern zahlreiche Partnerschaften mit kleineren bzw. regionalen Handelsketten geknüpft, die ihre Produkte über Amazons Schnelllieferdienst Prime Now verkaufen und am selben Tag zustellen lassen.

  • In Spanien bietet die zu Dia gehörende Supermarktkette La Plaza in Madrid frische Lebensmittel über Amazon an; in Valencia und Sevilla ist Dia direkt involviert.
  • Für Italien kooperiert Amazon in Mailand mit U2 Supermercato (187 Filialen in der Region), das zur Finiper Group gehört. In Rom und Turin bestellen Amazon-Kund:innen bei Pam – Panorama.
  • In Frankreich ist Monoprix, das zu Casino gehört, an Bord.
  • Etwas leichter hat es Amazon in Großbritannien: Dort betreibt Morrisons, die Nummer vier unter den britischen Supermarktketten, übers ganze Land verteilt eigene Filialen.

Nach und nach werden diese Kooperationen derzeit ins Amazon-Hauptangebot überführt, wo jeder kooperierende Händler anschließend seine eigene „Storefront“ besitzt. Prime Now könnte deswegen auf absehbare Zeit Geschichte sein, Kund:innen in München werden bereits freundlich gebeten, sich auch mal bei Fresh umzusehen (siehe Supermarktblog). Seit kurzem verspricht man zudem etwas nachdrücklicher:

„Weitere Lieferfenster sind bei Amazon.de/Fresh verfügbar. Jetzt testen.“

In Deutschland kooperiert bekanntlich die hessische Supermarktkette Tegut mit Amazon; als Weiterleitung ist die Adresse amazon.de/tegut bereits angelegt und verweist auf eine eigene „Storefront“ des Partners, die aktuell aber noch nicht freigeschaltet ist.

Gleichwohl dürfte Deutschland für Amazon schwerer zu knacken sein: Die Partnerschaft mit Tegut ist zwar eingespielt und scheint gut zu funktionieren; das Unternehmen verfügt aber in zahlreichen Bundesländern über keine eigenen Filialen. Wahrscheinlich ist, dass sich Amazon deshalb um Partnerschaften mit weiteren regionalen Supermarktketten bemühen wird. In Frage kämen dafür die in der Einkaufsgemeinschaft RTG zusammen geschlossenen Händler: Bünting beliefert Amazon bereits seit Jahren mit Waren aus dem Trockensortiment, ließe sich aber auch mit seinen stationären Formaten Famila und Combi an Bord holen; Bartels-Langness besorgt für Prime Now z.B. Tiefkühl- und Frische-Artikel und könnte sich mit Famila und Markant anschließen; Globus, Klaas & Kock, möglicherweise sogar Netto [mit Hund] kämen als Kooperationspartner ebenfalls in Frage.

Aktuell sucht Amazon in zahlreichen, auch kleineren Städten nach Flex-Kurierfahrer:innen, die Bestellungen zu den Empfänger:innen transportieren.

Tegut stellt in Südhessen Lebensmittel über Amazons Schnelllieferdienst Prime Now zu; Foto: Tegut

Mit solchen Allianzen und der zusätzlichen Kommissionierung von Online-Bestellungen in stationären Märkten könnte Amazon sein Angebot zur taggleichen Lieferung frischer Lebensmittel (das aktuell aufgrund der Fresh-Verfügbarkeitsprobleme eher die Ausnahme als die Regel ist) auf große Teile des Landes ausweiten und in Kombination mit dem eigenen Lieferdienst eine nennenswerte Zahl seiner Kund:innen versorgen. Und zwar ohne sich mit Übernahmen und Integrationen herumzuplagen.

Die Händler wiederum hätten (wie z.B. Tegut stets betont) den Vorteil, mit einem erfahrenen Partner zu kooperieren, der die Blaupause für einen funktionierenden Online-Lebensmittelhandel inklusive der notwendigen Strukturen für die Lieferlogistik mitbringt, die sich im Alleingang so vermutlich nicht stemmen ließe.

„Tegut agiert als einer von vielen Amazon-Marketplace-Händlern, allerdings mit einem auf Lebensmittelhandel spezifisch angepasstem Geschäftsmodell“,

erklärt Thomas Wingenfeld, Leiter Einkauf Services bei Tegut, die Kooperation mit dem US-Konzern – von der letztlich beide Seiten profitieren, indem sie sich neue Kund:innenkreise erschließen. Auch, wenn Eigenmarken zusätzlich über Fresh verkauft werden.

Tegut generiert durch seinen Lieferservice-Test mit Prime Now in Südhessen bereits jetzt zusätzliche Umsätze in der Größenordnung eines regulären Nahversorgermarkts (siehe Supermarktblog).

Foto: Supermarktblog

Dass die Kooperation zwischen ungleichen Partnern funktionieren kann, demonstriert die britische Supermarktkette Morrisons, die gerade eine Verdreifachung ihrer Online-Umsätze für das vergangene Geschäftsjahr gemeldet hat und angibt, mit den Diensten inzwischen profitabel zu arbeiten. Morrisons verkauft Lebensmittel über mehrere Kanäle und Partner: die eigene Website, die App des Lieferdiensts Deliveroo – und in rund 50 britischen Städten per Filialkommissionierung auf amazon.co.uk. „Internet Retailing“ berichtet:

„In the shops that support Morrisons on Amazon deliveries, more than 10% of sales are made via Amazon.“

Außerdem beliefert Morrisons den ersten britischen Fresh-Markt und erhöht so die Verfügbarkeit seiner Eigenmarken-Produkte.

Deutsche Handelsunternehmen werden das mit Interesse zur Kenntnis nehmen – zumindest könnte vielen die Verbündung mit Amazon aussichtsreicher scheinen als langfristig von Edeka, Rewe oder der Schwarz-Gruppe vereinnahmt zu werden, wie es Kaisers Tengelmann, Sky und Real passiert ist (siehe dazu auch Supermarktblog von 2017: Amazons Allianzen – wie Edeka, Aldi, Rewe und Lidl unabhängige Händler in die Arme ihres angriffslustigsten Konkurrenten treiben.)

Langfristig wird sich Amazon allein mit Allianzen kaum zufrieden geben – und auch in Europa stärker als stationärer Händler in Erscheinung treten. Auf welchem Weg das passieren wird, lässt sich derzeit nur schwer absehen.

Bis es auch in Deutschland soweit ist – und so lange die Expansion als On- und Offline-Lebensmitteleinzelhänler im Heimatmarkt USA priorisiert wird – hat Amazon mit einer zügigen Ausweitung von Fresh als Lieferservice, einzelnen Fresh-Stores in Großstädten und der länder- und regionenspezifischen Kooperation mit klassischen Handelsketten eine gute Basis, um den jeweiligen Marktführern zu demonstrieren, dass sie in Zukunft sehr viel stärker um ihre Kund:innen kämpfen müssen als sie bislang geglaubt haben.

Nachtrag, 17. März: Am Dienstag hat bereits der zweite Amazon-Fresh-Store in Wembley Park eröffnet:

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