50 Jahre dm und die verpasste Chance für den barrierefreien Einkauf

50 Jahre dm und die verpasste Chance für den barrierefreien Einkauf

Inhalt:

Deutschlands beliebteste Drogeriemarktkette will „den Menschen nie aus den Augen verlieren“. Um eine barrierefreie Nutzung seiner Abholstationen und SB-Kassen mitzudenken, hat der Ansporn bislang aber leider nicht gereicht. Die Konkurrenz macht’s besser.

Zu ihrem 50. Geburtstag hat Deutschlands immer noch beliebteste Drogeriemarktkette dm nicht nur den registrierten Nutzer:innen ihrer App wochenlang Shampoos, Cremes, Deos und Bio-Aufstriche geschenkt – sondern sich selbst auch die Gelegenheit, der Gesellschaft noch mehr Gutes zu tun als ohnehin schon: mit einem eigenen Zukunftskongress!

Ende September trafen sich in Berlin „namhafte und inspirierende Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft, Gesellschaft, Medien und Kultur“, um bei der dm-„Zukunftswoche“ über „Zukunftsthemen“ zu debattieren – und gemeinsam zu beratschlagen, wie diese angepackt werden müssen.

dm-Werbeplakat in der Fußgängerzone: „Dein Einkauf, dein Geschenk“; Foto: Smb

Gleich am ersten Tag ging’s unter der etwas verwirrenden Leitfrage „Vom Ich zum Wir? Wieviel Wir braucht das Ich? Wieviel Ich braucht das Wir?“ um das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, moderiert von „The Pioneer“-Gründer und Endzeitprophet Gabor Steingart, der dem Publikum damit drohte, im Laufe der Veranstaltung „Gedankensplitter pflanzen“ zu wollen.

(Falls Sie die teilweise trotzdem lohnenswerte Diskussion ansehen wollen, geht das hier auf YouTube – und scheuen Sie sich nicht, erst bei 40 Minuten einzusteigen: so lange haben die Beteiligten benötigt, um sich gegenseitig selbst für ihre gesellschaftlichen Engagements zu loben.)

„Den Menschen nie aus den Augen verlieren“

Vorher hatte dm-Geschäftsführer Christoph Werner bereits ein flammendes Plädoyer fürs „Menschsein im Morgen“ gehalten, natürlich auch aus der Perspektive einer europaweit erfolgreichen Drogeriemarktkette, die alle ihre Läden wochenlang im selbst entworfenen „Lust auf Zukunft“-Design beklebt hatte.

„Wir stellen uns dem Anspruch, den Menschen nie aus den Augen zu verlieren“,

erklärte Werner. Schon im dm-eigenen Claim – „Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein“ – versuche man sich „den Maßstab zu setzen, an dem wir gemessen werden wollen“.

Später sagte Werner auch, man wolle „für unsere Kundinnen und Kunden den Unterschied machen“ – etwa, indem „wir viele unterschiedliche Gesichtspunkte einbeziehen, bevor wir konkrete Entscheidungen treffen“, welche Produkte z.B. ins Sortiment kommen, „weil die Gesellschaft so vielfältig ist“. In einem so großen Unternehmen tätig zu sein und Verantwortung tragen, sei eine „Riesenchance“, „die Welt mitzugestalten durch die Realität, die wir jeden Tag gemeinsam aufs Neue kreieren können“.

Nicht für alle gleich gut

Deshalb engagiert sich dm auf vielfältige Weise und unterstützt regelmäßig gemeinnützige Initiativen; alleine in diesem Sommer wurden über 2 Millionen Euro an 3.000 „Zukunftsprojekte“ in Deutschland gespendet.

Und vor lauter Zukunftsgedanken kann es natürlich sein, dass in Karlsruhe die Gegenwart ein bisschen zu sehr in den Hintergrund gerückt ist, nämlich: die zahlreicher dm-Kund:innen, die täglich in den Märkten einkaufen und das gerne so selbstbestimmt täten, wie Werner es befürwortet.

Leider klappt das nicht für alle gleich gut.

Zum Beispiel bei den Abholstationen und den SB-Kassen, die dm seit einiger Zeit in seine Filialen löblicherweise integriert (siehe Supermarktblog und Supermarktblog) – und bei denen man bislang leider versäumt hat, sie so zu gestalten, dass sie auch barrierefrei nutzbar wären, z.B. für dm-Kund:innen mit Rollstuhl. Von denen potenziell ja immerhin 1,6 Millionen in Deutschland leben (Quelle: sozialhelden.de, PDF).

Abholeinkauf im niedrigen Fach

Dabei wäre das gerade bei den Abholstationen, die nach dm-Angaben inzwischen in 1.100 Märkten stehen, sehr praktisch: Anstatt Hilfe zu bemühen, um Artikel aus den hohen Marktregalen zu nehmen, ließe sich der Einkauf per App vorbestellen und als Express-Lieferung an der bereits barrierefrei zugänglichen Station im Laden abholen. Mit etwas Pech landet die von den dm-Mitarbeiter:innen kommissionierte Bestellung aber in einem der oberen Fächer – und als Kund:in mit Rollstuhl ist man doch wieder drauf angewiesen, Mitarbeitende aus dem Markt zu holen, damit die helfen.

(Eine Möglichkeit, Hilfe direkt über das Display der Station zu holen, gibt es derzeit nicht.)

Geht das auch anders? Klar, zum Beispiel beim ehemaligen dm-Kooperationspartner Amazon. Der hat in ganz Deutschland inzwischen zahlreiche seiner „Locker“ aufgestellt und bietet schon bei der Bestellung die Auswahlmöglichkeit an, das versendete Paket in die unteren Fächer einlegen zu lassen, um es leichter entnehmen zu können.

Bei der Auswahl der Lieferadresse gibt es dafür die Option „Niedrigen Locker verwenden“ („in einer Höhe von 38 bis 120 cm über dem Boden“); einmal angeklickt, bleibt die Option auch bei künftigen Bestellungen als Standard erhalten, bis sie wieder aktiv abgewählt wird.

Screenshot: amazon.de

Schwer erreichbarer Touchscreen

Zurück zu dm: Um den Drogeriemarkteinkauf noch weiter zu vereinfachen, stellt die Handelskette in vielen Märkten – neu eröffneten und bestehenden – derzeit Self-Checkout-Kassen auf, an denen Kund:innen ihre Produkte selbst erfassen und mit der Karte bezahlen können. Aktuell ist das laut dm in 200 Filialen der Fall. Man beobachte, „dass unsere Kundinnen und Kunden diesen Service gerne nutzen. Auf Basis dieser Rückmeldungen optimieren wir diesen Service stetig weiter und prüfen je Standort in Abstimmung mit den KollegInnen und Kollegen vor Ort, ob eine SB-Kasse jeweils sinnvoll ist“, heißt es dazu aus Karlsruhe.

Und es ist natürlich prima, dass die dm-Innovation so gut bei der Kundschaft ankommt – außer halt, dass auch hier Rollstuhlfahrer:innen das Nachsehen haben.

Zwar lassen sich Produkte an den SB-Kassensäulen problemlos im Sitzen scannen; der große Touchscreen darüber ist dann aber leider nur mit Mühe oder gar nicht bedienbar.

An Tütenbehang, Kassenzettelpapierkorb und Werbeaufsteller hat dm schon gedacht – an die Barrierefreiheit seiner neuen dm-Kassen (noch) nicht; Foto: Smb

Barrierefreie SB-Kassen als Standard

Geht das auch anders? Klar, zum Beispiel beim dm-Wettbewerber Rossmann. Auch dort baut man nach längerer Testphase derzeit verstärkt SB-Kassen in die Märkte ein (und dafür reguläre Bedienkassen mit Förderband ab). Aktuell ist das Selbstscannen nach Unternehmensangaben in 470-Rossmann-Filialen möglich. Ein Sprecher erklärt auf Supermarktblog-Anfrage:

„Die Erfahrung hat gezeigt, dass SCO-Kassen eine echte Zeitersparnis mit sich bringen können – gerade während Frequenzspitzen im Tagesgeschäft. Aus diesem Grund werden die Selbstbedienungskassen gerne angenommen. Wir prüfen ständig, welche Filialen wir mit SB-Kassen ausstatten und planen bis Ende des Jahres auf ca. 600 Filialen zu kommen. Darunter befinden sich auch bestehende (ältere) Verkaufsstellen.“

Gleichzeitig ist man in Burgwedel (genau wie bei der „Sesamstraße“) drauf gekommen, dass – nun ja: die Gesellschaft vielfältig ist. Und Kund:innen unterschiedliche Bedürfnisse haben.

Seit einiger Zeit nutzt Rossmann deshalb neue SB-Kassenmodelle: mindestens eine von in der Regel drei Self-Checkout-Säulen ist mit einem zweiten Touchscreen in Sitzhöhe ausgestattet, der sich von Kund:innen bedienen lässt, die ihre Ware nicht im Stehen scannen.

Barrierefreie SB-Kassen-Säulen mit zweitem Touchscreen bei Rossmann; Foto: Smb

Rossmann erklärt auf Supermarktblog-Anfrage, die Doppel-Touchscreen-Säulen seien inzwischen Standard:

„Tagesaktuell haben wir 341 Verkaufsstellen mit barrierefreien SCO-Kassen ausgestattet. Diese werden explizit immer in jeder Verkaufsstelle verbaut, wenn es SCO-Kassen gibt.“

Trotz langjähriger Tests vergessen?

Um nicht unfair zu sein: Auch andere Unternehmen haben (noch) nicht dran gedacht, beliebter werdende Abholstationen und SB-Kassen so zu designen, dass sie sich barrierefrei(er) nutzen lassen. Und natürlich muss man ihnen zugestehen, das noch zu ändern.

(Der Rewe-Kund:innenservice erklärt z.B., man habe die Anregung an „die zuständige Abteilung weitergeleitet und hoffe, dass wir Ihren Wunsch zur Abholung möglichst bald umsetzen können“; und auch im Supermarktblog gibt es noch reichlich Optimierungsbedarf für mehr Barrierefreiheit.)

Aber dass ausgerechnet dm diese Möglichkeit bei seinen neu eingeführten Einkaufserleichterungen (Motto: „Einkaufen, wie es ins Leben passt“) – noch dazu: nach mehrjährigen Tests jeweils im zweiten Anlauf – nicht von vornherein mitgedacht hat, während Kongresse veranstaltet werden, bei denen man das eigene Tun als „Liebeserklärung an die Freiheitsfähigkeit der Menschen“ verstanden wissen will, „den Menschen nie aus den Augen verlieren“ will und erklärt, es gewohnt zu sein, „viele unterschiedliche Gesichtspunkte“ einzubeziehen, „bevor wir konkrete Entscheidungen treffen“, das ist dann schon irgendwie – bemerkenswert.

dm sieht „Optimierungspotential“

Vor allem, wenn’s für die Marketingabteilung kein Problem ist: Im zum 50. dm-Geburtstag erschienen Mitsing-Liederbuch für Kinder, das kostenlos in den Märkten auslag (und hier noch zum Download bereit steht) klappt die Inklusion jedenfalls deutlich besser.

„Wir wollen heut feiern“ wird darin auch von einem Kind im Rollstuhl mitgesungen und -getanzt.

Ausriss: dm

Auf Supermarktblog-Anfrage räumt dm ein, bislang keine barrierefreien Optionen für seine Abholstationen und SB-Kassen anzubieten; dafür muss dm-Marketing-Chef Sebastian Bayer aber weit ausholen:

„Uns ist es wichtig, sowohl unser Sortiment als auch unsere Services an den Wünschen und Bedürfnissen unserer Kundinnen und Kunden auszurichten. Aus diesem Grunde arbeiten wir bereits an der Weiterentwicklung unserer Produkte und Services, bei der wir künftig auch die Barrierefreiheit sowohl von unseren Selbstbedienungskassen als auch von unseren Abholstationen im Fokus haben. Für beide Themen sehen wir hier weiteres Optimierungspotential und treiben diese Erkenntnisse bereits in den Projekten zur Weiterentwicklung voran.“

Das ist erfreulich. Oder wie Christoph Werner beim dm-Zukunftsdialog gesagt hat:

„Das Entscheidende ist, die Dinge zu tun. (…) Bringen wir unsere Ideen in praktische Anwendung!“

Ja – oder, falls die nicht reichen: wenigstens die guten Ideen der anderen.

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1 Kommentar
  • Wenn die „Umwelt“ mitgedacht werden soll, aber dies nicht geschieht, nennt man das Greenwashing.

    Wie heißt das in dem Zusammenhang? „Peoplewashing“? 😉 „Customerwashing“ oder „Satisfactionwashing“ … ? 😉

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