Regional-Strategie bei Picnic: Hallo Herr Bürgermeister, wir sind der neue Lieferdienst für Ihre Stadt

Regional-Strategie bei Picnic: Hallo Herr Bürgermeister, wir sind der neue Lieferdienst für Ihre Stadt

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Picnic liefert Lebensmittel nicht bloß in Metropolen, sondern auch in kleineren Städten – und will vorher ganz genau wissen, wie die Kund:innen dort ticken und welche regionalen Produkte sie mögen.

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Manchmal wirkt Michiel Muller ein klein bisschen erschöpft, wenn er schon wieder die Geschichte vom modernen Milchmann erzählen soll – so als bringe er den von seinem Unternehmen umworbenen Pflegekräften und Bauarbeitern abends die online bestellten Wocheneinkäufe selbst nachhause.

Ist aber ja auch kein Wunder: Mullers Lebensmittel-Liefer-Start-up Picnic gilt im europäischen Markt schließlich noch immer als Besonderheit (und Erfolgsmodell), vor allem wegen seiner kompakten Lieferfahrzeuge mit Elektroantrieb und der Kostenloslieferung in festen 20-Minuten-Zeitfenstern – das von Picnic beschworene „Milchmann-Prinzip“ eben.

In der vergangenen Woche gab der Niederländer im OMR-Podcast einen kleinen Einblick in die aktuellen Entwicklungen beim Herausforderer der großen Handelsketten. Zwei Jahre nach dem Deutschland-Start (im Anschluss an eine längere Incognito-Testphase) hat Picnic die Zahl der belieferten Orte deutlich erhöht, beliefert etwa 80.000 Kund:innen und bereitet nach der Eröffnung eines zweiten Verteilzentrums in Herne bereits eine dritte Basis vor. „Unsere am schnellsten wachsende Stadt ist aktuell Mönchengladbach“, erklärte Muller. Kund:innen, die auf einen baldigen Start außerhalb Nordrhein-Westfalens hoffen, muss der Picnic-CEO allerdings weiter vertrösten: „In den nächsten ein, zwei Jahren werden wir sehr gut in NRW beschäftigt sein.“

Bis zu 10.000 Bestellungen in der Woche schafft Picnic laut Muller in jeder neuen Lieferregion. Ungefähr sechs Monate dauere es, bis es sich in einer neuen Stadt profitabel liefern lässt (bezogen auf den jeweiligen City Hub, die Kosten fürs Picking bzw. Fulfillment nicht eingerechnet.) Bis Ende 2020 würden sich die Umsätze in Deutschland im Vergleich zum Vorjahr verdoppeln.

Erst die kleinen Städte, dann die Metropolen

Dank der fixen Lieferzeitfenster komme Picnic im Vergleich zu klassischen Lebensmittel-Lieferdiensten mit einem Drittel der Kosten für die Zustellung auf der letzten Meile aus. Gerade wurde der 1000. elektrische Lieferflitzer in Betrieb genommen.

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Eine wesentliche Rolle für den Erfolg spielt aber auch, dass Picnic das Liefergeschäft grundsätzlich anders angeht als viele Wettbewerber. In den Niederlanden ist man 2015 im 150.000-Einwohner:innen-Städtchen Amersfoort gestartet, um das Modell zu testen. Muller zufolge hat das Unternehmen dort inzwischen bereits 4 Prozent des Lebensmittelmarkts für sich erobert. („Wenn Handelsketten in Deutschland 0,1 Prozent Marktanteil gewinnen, rufen die bei der F.A.Z. an um zu melden, dass was passiert ist“, stichelte der CEO im Gespräch nebenbei gegen die Konkurrenz.)

Auch in Deutschland starteten die Fahrzeuge mit den roten Einkaufsboxen erst in kleineren Orten und kommen nun nach und nach in größere Städte (zuletzt Düsseldorf). Zuvor waren im April Kamen, Bergkamen, Unna (mit den Stadtteilen Afferde, Knigsborn, Massen und Massen-Nord), die Dortmunder Stadtteile Brackel und Scharnhorst sowie Lünen (mit Beckinghausen, Horstmar und Niederaden) dazu gekommen.

Mullers Botschaft: „[Picnic] ist nicht nur was für Amsterdam, Berlin und Paris – sondern für jede und jeden. Auch Leute [in kleineren Städten] haben einen anstrengenden Alltag.“ Auf genau die zielt das Start-up mit seinem Service – mit einem praktischen Nebeneffekt: „Es gibt viele mehr mittelgroße Städte als Metropolen.“ Dort wollen die Niederländer nicht nur verlässlicher Lieferpartner sein – sondern im Idealfall Teil der Gemeinschaft.

Treffen mit mit Bürgermeister:innen und Sportvereinen

„Picnic versteht sich als erster Online-Supermarkt, bei dem es sich jede:r leisten kann, Lebensmittel zu bestellen“, sagt Frederic Knaudt, Geschäftsführer und Mitgründer von Picnic Deutschland. Dieser Anspruch unterscheide sich fundamental davon, wie viele Verbraucher:Innern die Lieferung von Lebensmitteln bislang wahrnehmen würden: als etwas, das man sich ab und an mal gönnt oder wegen hoher Lieferkosten leisten können muss. „Das bedeutet für uns, dass wir erst ein gewisses Vertrauen schaffen und in neuen Städten sozusagen Aufbauarbeit leisten müssen“, erklärt Knaudt im Supermarktblog-Gespräch. „Deshalb treffen wir uns mit Bürgermeister:innen und Sportvereinen, wir ziehen im Karnevalszug mit und gehen auf Stadtfeste.“

Nicht ganz uneigennützig, versteht sich: Zahlreiche Neukund:innen gewinnt Picnic über direkte Empfehlungen derer, die den Dienst bereits ausprobiert haben. Außerdem zeichne sich ab, dass die allermeisten Kund:innen dem Dienst spätestens nach der sechsten Bestellung langfristig treu bleiben, meint Muller im OMR-Podcast: „Die gehen dann nicht mehr weg.“

Das helfe auch bei der Planung: „Die Loyalität unserer Kund:innen ist so groß, dass sich damit nicht nur die Bestellzahlen für die kommende Woche kalkulieren lassen. Es bedeutet auch, dass die Kosten für Marketing sehr niedrig sind.“

Wie sehr Picnic als lokaler Akteur empfunden wird, ist ebenfalls von Bedeutung. Deutschland-Chef Knaudt erklärt: „Aus unserem Growth-Team heraus sehen wir uns an, wer mögliche Ansprechpartner:innen in der Region sein und mit wem wir uns vernetzen können. Tatsächlich wollen wir über jede Stadt, in der wir neu starten, etwas lernen.“ Das ist viel Arbeit und kostet Zeit, sei aber wesentlicher Teil des Ansatzes.

Miet-Hüpfburg und Bällebad

Die Erstgespräche, zum Beispiel mit Bürgermeister:innen oder Stadträten, sind – we Knaudt es formuliert – in der Regel „sehr angenehm“, oft auch „ohne konkrete Agenda“. „Uns gibt das die Gelegenheit, Picnic und unseren Ansatz vorzustellen.“ Manchmal ergebenen sich aber auch direkt Kooperationen – so wie in Düsseldorf, wo die erste Lieferung gemeinsam mit Oberbürgermeister Thomas Geisel an die örtliche Tafel zugestellt wurde.


Foto: Landeshauptstadt Düsseldorf/Ingo Lammert

Die regionale Nähe beschränkt sich nicht auf die Politik. Jeder Sportverein kann sich für sein Sommerfest bei Picnic eine Hüpfburg ausleihen. „Außerdem haben wir einen unserer ePvs – so heißen unsere Elektrofahrzeuge – zum Bällebad für Kinder ausgebaut und auf den Namen ‚Bally‘ getauft“, sagt Knaudt. Zu Nicht-Corona-Zeiten sei man in der Regel „in jeder Picnic-Stadt ungefähr einmal im Monat auf einem Event präsent“. „Wir hoffen, dass das bald wieder möglich wird.“

Das lokale Interesse wirkt – zumindest aus der Ferne betrachtet – authentisch; vor allem aber hilft es dem Start-up dabei, in neuen Liefergebieten Fuß zu fassen. (Und in die Lokalzeitung zu kommen ohne dafür große Anzeigen schalten zu müssen. Jedenfalls dürfte Knaudt aktuell den Rekord für den am häufigsten neben Lokalpolitikern fotografierten Geschäftsführer eines Lebensmittel-Lieferdiensts halten; auf dem Foto unten in der Mitte.)


Foto: Picnic

Das ist auch deshalb schlau, weil es das bekannte Prinzip des lokalen Kaufmanns bzw. der lokalen Kauffrau, die „ihre“ Region und die Vorlieben ihrer Kundschaft genau kennen, aufgreift und aus dem stationären Handel auf ein modernes Modell überführt. (Was sonst weder Edekas Bringmeister noch Rewes Lieferservice und [trotz zaghaften Versuchen] auch Amazon Fresh nicht für sich behaupten kann.)

Regionale Besonderheiten für jede Stadt

Zu dieser Glaubwürdigkeit gehört auch eine entsprechende Auswahl regionaler oder sogar lokaler Produkte, die größtenteils auf Kooperationen mit regionalen Erzeuger:innen basiert. „Unser Ziel ist es, Im Sortiment die Besonderheiten jeder Stadt, zumindest aber jeder Region abzubilden“, sagt Frederic Knaudt. „Die Erdbeeren von Küppers sind beliebt in Neuss, Mönchengladbach, Düsseldorf und Langenfeld. Den Bochumer:innen sagt der Name aber vielleicht nicht mehr so viel.“ Deshalb lasse sich die Sortimentsanzeige für jede Stadt, theoretisch auch individuell für einzelne Kund:innen steuern.


Screenshot: Picnic/Smb

„Die allermeisten Hersteller:innen, mit denen wir sprechen, sind tatsächlich sehr offen, auch wenn der Verkaufsweg für sie vielleicht neu ist.“ Viele Landwirte arbeiten ohnehin schon mit stationären Kaufleuten zusammen. „Unser Feedback ist“, sagt Knaudt, „dass die [verkauften] Mengen über Picnic zum Teil bis zu dreimal höher liegen.“

Gigantisch ist die Auswahl (mit rund 200 Regionalprodukten) zwar nicht. Aber wenn die richtigen Artikel dabei sind, scheint das zu genügen. Manche:r Partner:in wird plötzlich auch über ihre bzw. seine bisherigen Verkaufsgrenzen hinaus bekannt. Das Eis vom lokalen Hersteller aus Krefeld ist mit einem Mal auch in Neuss beliebt. Und der kleine Imker sammelt Honig-Fans in völlig neuen Regionen ein. Zum Start in Bochum durfte Currywurst aus dem Bratwursthaus nicht fehlen. Und zu Weihnachten im Vorjahr gab’s für Picnic-Kund:innen 500 Nordmanntannen aus dem Weihnachtsbaumland im Sauerland frei Haus. In erster Linie cleveres Marketing? Ja. Aber halt: cleveres Marketing, während die Konkurrenz Frischegarantien und Sofortlieferungen promotet.

Wieviele Brötchen brauchen wir für morgen?

Einen Teil der regionalen Artikel bezieht Picnic über den Partner Edeka Rhein-Ruhr, mit dem man für die Warenbeschaffung zusammenarbeitet; andere werden direkt bei den Hersteller:innen beschafft.

Knaudt sagt: „Wir arbeiten natürlich auch bei unseren Partner:innen mit Forecasts, also Mengenprognosen, die auf Erfahrungswerten beruhen. Aber am Ende des Tages kriegt zum Beispiel unser Bäckerei-Partner [Büsch aus Kamp-Lintfort] die exakte Menge an Backwaren, die unsere Kund:innen für den nächsten Tag bestellt haben – und liefert entsprechend.“ Das sei auch wichtig, um nachhaltig zu wirtschaften und nichts wegwerfen zu müssen. „Es hilft außerdem, die Kosten unter Kontrolle zu halten.“

Für den Ausbau des Angebots ist das regelmäßige Feedback der Stammkund:innen nützlich, das direkt über die App abgefragt wird: „Unser Einkauf schaut sich das an und überlegt, ob es sinnvoll ist, das Sortiment zu erweitern. Informationen über das, was sich die Kund:innen wünschen, hat in dieser Qualität kein regulärer Supermarkt“, ist Knaudt sicher.

Die Betriebe wiederum sind offen für Ideen, um ihre Produkte zielgruppengerecht anzubieten, etwa mittels alternativer Verpackungen. „Der Obsthof, der seine Äpfel sonst nur im 1-Kilo-Plastiksäckchen im Supermarkt verkauft, packt für uns zum Beispiel kleiner Mengen in umweltschonende Papiertüten.“

Auch Liefer-Regionalität hat ihre Grenzen

Am Ende hat im Lebensmittel-Liefergeschäft freilich auch die regionale Verankerung ihre Grenzen. Von jedem so genannten City Hub aus, über den die im Fulfillment Center gepackten Einkäufe verteilt werden, muss Picnic in der Regel 40.000 Haushalte erreichen, damit das Modell sich trägt. (Zuletzt wurde zudem der Mindestbestellwert deutlich erhöht.) Das bedeutet im Umkehrschluss aber auch: Raus aufs Land kommen die Niederländer mit ihrem Modell wohl nie. „Die Bevölkerungsdichte würde dort einfach nicht ausreichen“, erklärte Michiel Muller im OMR-Gespräch.

Nicht ohne hinterher zu schieben, dass man trotzdem stolz darauf sei, seine Liefergebiete genau zu kennen: „[Wir sind] nicht der große amerikanische Anbieter, der ins Land kommt. Picnic ist wirklich was für deine Nachbarschaft. Wir sind lokal.

Im Kampf um Markanteile könnte sich das künftig als ähnlich großer Vorteil herausstellen wie die Flexibilität und Bequemlichkeit, mit denen die Wettbewerber punkten wollen.


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Titelfoto: Landeshauptstadt Düsseldorf/Ingo Lammert, Fotos Muller/Kommissionierung: Picnic"

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