Zu den Lieblingsbeschäftigungen mancher Medien gehört die Berichterstattung über kuriose Amazon-Patente, die vielleicht niemals umgesetzt werden, sich aber so schön futuristisch lesen, vom fliegenden Warenzeppelin bis zum Dronen-Bienenstock.
Vermutlich waren deshalb alle ein bisschen enttäuscht, als Bloomberg in der vergangenen Woche heimlich geschossene Fotos des noch nicht eröffneten neuen Amazon-Supermarkts in Woodland Hills, einem Stadtteil von Los Angeles, publizierte – und alles, was darauf zu sehen war, nun ja: sehr nach ganz gewöhnlichem Supermarkt aussah. Lange Regalreihen, Bedientheken für Fleisch und Fisch, Warmhaltetresen für zubereitetes Essen.
Mal abwarten, wie groß die Enttäuschung sein wird, wenn der Laden tatsächlich eröffnet – und am Ende einfach so heißt, wie es naheliegend wäre (und hier schon im vergangenen November spekuliert wurde): Amazon Fresh?
(Dafür spricht inzwischen auch die Bloomberg-Beobachtung, der Konzern habe für einen anderen Standort eine Lizenz zum Alkoholverkauf unter dem Namen „Amazon Fresh“ beantragt sowie das Fresh-Grün, das auf Fotos an der Außenfassade des Ladens zu erkennen ist.)
Amazons erste klassische Supermarktkette wird nach außen vermutlich keine konzeptionelle Revolution werden – eher im Gegenteil. Der Konzern dürfte sich damit deutlich stärker an bestehenden Marktstandards orientieren als man das bisher von den Innovator:innen aus Seattle gewohnt war.
Amazon geht es in erster Linie darum, neben Whole Foods Market ein zweites Standbein im stationären Lebensmitteleinzelhandel zu etablieren. Um damit weitere Zielgruppen anzusprechen. Und die Läden als Basis für Lebensmittel-Lieferungen zu nutzen, die Amazon Prime-Kund:innen bald flächendeckend anbieten will. Allein mit großen Warenlagern am Stadtrand wird das nicht funktionieren (siehe Supermarktblog).
Abholtresen am Ladeneingang
Der auffälligste Unterschied zu anderen Supermärkten dürfte darin bestehen, dass Abholoptionen in den stationären Läden von vornherein sehr viel mehr Platz eingeräumt wird.
Auf einem der heimlich geschossenen Fotos, die Bloomberg zeigt, ist am Ladeneingang ein großer Tresen für „Returns and Pick-up“ im typischen Amazon-Orange installiert. Dort ließen sich nicht nur reguläre Amazon-Bestellungen abholen bzw. zurücksenden, sondern aller Voraussicht auch: Obst und Gemüse, Käse, Fleisch, Backwaren usw., die vorher online bestellt wurden.
Eine wichtige Besonderheit zeichnet sich allerdings ab: Auf dem zu Genehmigungszwecken eingereichten Gebäudeplan hat das Hngry-Blog ein Microfulfillment-Center, also ein automatisertes Mini-Lager, entdeckt. Das könnte entscheidend für die kostengünstige, schnelle Kommissionierung von Online-Bestellungen sein: wenn ein Teil der Ware im Hintergrund automatisch gepickt würde und der Rest (z.B. Kühlartikel) von Mitarbeiter:innen regulär per Hand.
Wie sehr Amazon darauf setzt, Lebensmittel für die Schnell-Lieferung in seinen Läden kommissionieren zu lassen, wird derzeit auch bei Whole Foods Market sichtbar. Ob sich neue Technologien auch dort in bestehende Strukturen implementieren lassen: abwarten. Bereits jetzt ist aber zu ahnen, woran es den Läden vor allem fehlen wird, nämlich an Platz.
Wie der „Philadelphia Inquirier“ berichtet, hat Amazon das bislang im Erdgeschoss eines örtlichen Whole-Foods-Markts integrierte Allegro Café geschlossen – und durch eine lange Reihe an Regalen und Kühlmöbeln ersetzt, in denen Lebensmittel-Bestellungen für Abholung oder Versand zwischengelagert werden.
Sitzgelegenheiten gibt es im regulären Laden, der einen Stock höher liegt, zwar immer noch. Von dort blicken Lunch-Verzehrer:innen nun aber unmittelbar auf das Zwischenlager, über dem noch die alten Café-Leuchten hängen.
Und anstatt Kund:innen wie bisher von draußen mit frischem Kaffee hereinzubitten, stehen im Schaufenster nun halbleere Regale.
Dabei handelt es sich vermutlich nicht um einen Einzelfall. In anderen Städten verfügt Whole Foods ebenfalls über Cafés, deren Eingänge in der Regel vom eigentlichen Markt getrennt sind, z.B. in New York City:
In absehbarer Zeit dürften wohl auch die in Lager umgewandelt werden. In der vergangenen Woche beschwerte sich ein Barista auf Twitter, er sei gerade erst für ein New Yorker Allegro-Café eingestellt worden, um nach wenigen Tagen zu erfahren, dass er schon im nächsten Monat nicht mehr gebraucht werde. (Der Tweet ist inzwischen gelöscht worden.)
Lagerplatz geht vor Aufenthaltsqualität
Aus Sicht von Amazon mag das eine nachvollziehbare Strategie sein: Hohe Gewinne dürften die Cafés kaum eingefahren haben. Und wenn Amazon sein Zwei-Stunden-Lieferversprechen für online bestellte Lebensmittel einhalten möchte, braucht es dafür mehr Platz in den Läden.
Viel mehr Platz als externe Dienstleister wie Instacart bislang in den Filialen hatten (Archivfoto):
Wenn Amazon nicht die – umsatzbringende – Verkaufsfläche verkleinern möchte, muss der benötigte Raum anderswo herkommen. Dafür wurden zuletzt bereits gastronomische Flächen, die in die Läden direkt integriert waren, umfunktioniert (siehe Supermarktblog).
Klingt logisch. Zugleich riskiert Amazon durch die kurzfristigen Umwandlungen jedoch, langfristig der Marke Whole Foods zu schaden. Dort hat man nämlich frühzeitig erkannt, dass auch Supermärkte immer stärker zu so genannten „Dritten Orten“ werden – Orten, an denen sich Menschen treffen und aufhalten, wenn sie nicht zuhause oder auf der Arbeit sind. Dafür braucht es entsprechende Angebote. Und ein gewisses Maß an Aufenthaltsqualität.
Also holt Whole Foods regionale Bäcker und Gastronomen in seine Läden und integriert großflächig Sitzgelegenheiten (siehe Supermarktblog und gleich nochmal: Supermarktblog). Wenn das nun in Teilen rückgängig gemacht wird (während Filialen des Convenience-Markt-Schwesterkonzepts Amazon Go gleichzeitig mit neuen Sitzplätzen ausgestattet werden), ist das der Glaubwürdigkeit nicht unbedingt zuträglich.
Bisschen eng geworden hier
Einen solchen Eingriff in die Markenwahrnehmung auf die leichte Schulter zu nehmen, wäre fahrlässig – nicht nur, weil die Umsatzentwicklung bei Whole Foods zuletzt eher enttäuschend ausfiel, während andere amerikanische Lebensmitteleinzelhändler deutlich stärker gewachsen sind.
Ein Teil der Whole-Foods-Stammkundschaft sieht die Übernahme des Bio-Spezialisten ausgerechnet durch Amazon ohnehin skeptisch. In den vergangenen Monaten gab es zudem Meldungen, dass Lieferanten stärker unter Druck gerieten und Teilzeitmitarbeiter neuerdings keinen Anspruch mehr auf die ihnen bisher zugestandene Krankenversicherung haben.
Und in den sozialen Medien häufen sich Beschwerden darüber, dass es beim Einkauf in den stationären Läden wegen der Prime-Picker, die für Online-Besteller:innen durch die Regelreihen gehen, ziemlich eng geworden ist.
Mag sein, dass es Amazon gelingt, die Sofortlieferung frischer Lebensmittel mittels Prime ebenso zum Standard zu machen wie das in zahlreichen anderen Kategorien gelungen ist; wenn das zu Lasten des eigenen stationären Geschäfts ginge, wäre dadurch aber wenig gewonnen.
Nicht mehr willkommen?
Dann nämlich, wenn Kund:innen zunehmend das Gefühl vermittelt bekämen, nicht mehr willkommen oder sogar im Weg zu sein. Cafés, die zu Lagerflächen umdeklariert werden, verstärken diesen Eindruck noch.
Die Filialen seiner neuen Supermarktkette kann Amazon so bauen, dass sie beiden Einkaufsformen gerecht werden, ohne dass sich reguläre Einkäufer:innen vom Online-Geschäft gestört fühlen; welche Rolle Automatisierung dabei spielt, wird hochinteressant. In über 480 Whole-Foods-Filialen wird es aber sehr viel schwerer sein, eine angemessene Balance zu finden.
Der Text wurde nachträglich ergänzt.
Fotos: Supermarktblog