Was ist der Unterschied zwischen einem schlecht sitzenden Anzug und einem schlecht sitzenden Versprechen? Den Anzug muss man zurückgeben, das Versprechen zurücknehmen. Blöd nur, wenn man sich damit zuvor sehr, sehr weit aus dem Fenster gelehnt hat – dem Versprechen, nicht dem zu knappen Zwirn.
(Und, nein, keine Angst: Hier geht’s nicht um die Diskussion über die Impfpflicht.)
Von Anfang an lautete der Eid, den der Sofortlieferdienst Gorillas seinen Kund:innen schwor, dass ihre Lebensmittelbestellung in die Nachbarschaft nur zehn Minuten dauern würde. Das war, weil es anfangs tatsächlich in der Mehrheit der Fälle funktionierte (siehe Supermarktblog), die allerbeste Mundpropaganda, die man sich als Unternehmen für die Neukund:innen-Akquise vorstellen kann; und noch dazu ein hervorragendes Argument, um bei Investoren Gelder fürs Wachstum einzuwerben.
Schon nach wenigen Monaten allerdings war klar, dass die Nachteile dieses Versprechens mit der Zeit überwiegen würden: zu viel Druck für Kurierfahrer:innen, eine steigende Fehlerquote beim Picking der Artikel im Lager, der Zwang zu Anmietung von Flächen in dicht besiedelten Stadträumen, wo es auch schon ohne den regelmäßigen Zulieferverkehr eng genug war.
(Hier im Blog stand deshalb vor einiger Zeit schon mal ausführlich, warum die 30-Minuten-Zustellung das bessere Lieferversprechen wäre.)
Das langsame Verschwinden der 10
Gorillas hielt trotzdem am ursprünglichen Prinzip fest und erklärte auf Supermarktblog-Anfrage, das 10-Minuten-Versprechen habe „eine hohe Priorität“. Das scheint sich gerade ein Stück weit zu ändern.
Im Bermuda-Lieferdreieck des Start-ups in Prenzlauer Berg wird Kund:innen beim Bestellen derzeit eher selten eine Zustellzeit von bis zu zehn Minuten angezeigt, wenn sie nicht in der direkten Nachbarschaft eines Lagers wohnen. Meine letzten Bestellungen kamen (außerhalb der klassischen Stoßzeiten) alle nach 20 bis 35 Minuten an – was zweifellos immer noch sensationell schnell und praktisch ist. Und angesichts des stark wachsenden Sortiments, das Gorillas inzwischen anbietet, auch eine deutlich realistischere Zeitspanne, um sie über längere Zeit durchzuhalten.
(In Berlin experimentierte Gorillas kürzlich sogar damit, Lunch-Bowls in Vytal-Mehrwegschalen zuzustellen, wozu man als Kund:in sein Liefertoken im Kommentarfeld eintragen musste, um die Schale dem eigenen Vytal-Konto zubuchen zu lassen. Das Angebot ist inzwischen aber zumindest aus meiner App wieder verschwunden.)
Ganz so kommuniziert Gorillas das gegenüber seinen Kund:innen freilich nicht. Auf der Website steht weiter großspurig:
„Groceries delivered in 10 minutes.“
In der App allerdings ist vor kurzem der bisherige Startbildschirm-Hintergrund – eine grau auf schwarz gesetzte 10 – durch einen neutraleren ersetzt worden: das Gorillas-Logo.
Die Zeiten, in denen man sich für eine Lieferzeitverzögerung auf bis zu 20 Minuten entschuldigt hat, sind auch lange vorbei.
Und die Plakate, mit denen das Start-up derzeit in Berlin für sich wirbt, sind zwar nicht weniger affig als die bisherigen; unter der rhetorisch gemeinten Frage „Need a Little Magic?“ steht dort jetzt aber – wie auf Instagram – sehr viel neutraler formuliert und ohne exakte Zeitangabe:
„Einkäufe geliefert in Minuten.“
Auf diesen Satz scheint sich die Quick-Commerce-Branche gerade zu einigen; zumindest steht er fast genauso auf der Startseite des Gorillas-Rivalen Flink („Dein Einkauf geliefert in Minuten“). Ganz verschwunden sind die zehn Minuten aber auch bei Flink (noch) nicht, sie stehen weiter auf den Plakaten, wenn auch nicht mehr so groß wie früher, sondern im Kleingedruckten – obwohl das Versprechen vielerorts selbst in akzeptabler Nähe zum nächsten Lager nicht immer eingehalten werden kann.
Wie gesagt: Das ist kein Drama. Es ist aber auch kein besonders cleveres Marketing.
Die Rückkehr der Warteschlange
Noch dämlicher stellt sich bloß der Quick-Commerce-Auskenner Getir aus der Türkei bei seiner Deutschland-Eroberung an („Wir liefern Lebensmittel in Minuten“): Halb Berlin ist gerade zuplakatiert mit Aufforderungen, Lebensmittel über Getir zu bestellen. Und in der App wird minutengenau angegeben, wie lange es dauern soll, bis ein Einkauf vor der Tür steht.
Wer sich darauf verlässt, erlebt allerdings eine kleine Überraschung, wenn er den Warenkorb gefüllt und sich bis zur Bezahloption durchgeklickt hat. Dann steht in der App derzeit regelmäßig:
„Derzeit sind leider keine Rider verfügbar. Sollen wir dich in die Warteschlange stellen, sodass Deine Bestellung in 10 bis 15 Minuten unterwegs ist?“
Um Vertrauen aufzubauen, ist das kein besonders schlaues Vorgehen: Erst ein ungefähres Lieferzeitversprechen abgeben – und kurz vorm Absenden der Bestellung eingestehen, dass es wahrscheinlich doppelt so lange dauern wird.
Ganz abgesehen davon: Wer kommt eigentlich auf die dämliche Idee, App-Kund:innen wie im Supermarkt „in die Warteschlange“ stellen zu wollen, von der sie sich doch mit der Blitz-Bestellung befreien wollten?
Besonders glücklich stellen sich die Quick-Commerce-Dienste in der Kommunikation mit ihren Kund:innen gerade nicht an. Dabei wäre das sicher die bessere Idee, als Leuten, die gerade erst bestellt haben, haufenweise „Wir vermissen dich“-Gutscheine nachzuwerfen, um die selbst zusammenfantasierten Umsatzvorgaben zu erreichen, und parallel dazu an der endgültigen Zerstörung seines Images zu arbeiten.
Meine Prognose: In unmittelbarer Nähe der Lieferlager werden die zehn Minuten auch künftig möglich sein; aber schon ein ein paar Straßen weiter ist es angesichts des komplexer gewordenen Modells der Quick-Commerce-Anbieter unrealistisch, die Bestellung so schnell zu den Kund:innen zu kriegen wie einst versprochen. (Und der Winter kommt erst noch.)
Das generelle 10-Minuten-Lieferversprechen ist erledigt. Und das ist nicht weiter tragisch – wenn die Gorillas, Flink & Co. bloß so ehrlich wären, es endlich zuzugeben.
Danke an Stefan!
die Erhoöhung des Mindeslohnes wird starke Auswirkungen auf die Firmen haben
vermutlich wird man den Ridern im Winter um die 14 Euro zahlen müssen, Dazu steigen dann auch die Lohnnebenkosten stark
insgesamt wird alleine eine Riderstunde über 20 Euro kosten (Lohnfortzahlung bei Krankheit und Urlaub noch dazu)dazu vielleicht nochmal 10-15 Euro fürs Picken, Miete,Strom, App, Overhead und Marketing etc.
wenn ein Ruder 3-4 Bestellungen pro Stunde schafft, muss allein für einen Break Even pro Lieferung 10 Euro Gewinn gemacht werden
Das wird nur bei Tankstellenpreisen gehen, was wiederum zu weniger Kunden führt
Ich bin Fahrer bei Lieferando und habe mit die Frage nach der Gewinnmarge auch schon gestellt. Manchmal hat man in einer Stunde 3 Bestellungen für insgesamt vielleicht 30€. Wenn Lieferando davon etwa 30% kassiert, reicht das nicht Mal um meine Arbeitszeit zu bezahlen (und ich bin sogar durch eine Zeitarbeitsfirma dort hin vermittelt, koste also eventuell das Doppelte).
Wieso rote Zahlen erst einmal Sinn machen: Man versucht zu expandieren, immer mehr Kunden zu erreichen und seine Konkurrenten zu schlagen, um am Ende der Marktführer und sogar der einzige Dienstleister in diesem Geschäft zu sein. Erst dann sollte man auf jeden Fall auch schwarze Zahlen schreiben…