Sie waren ja bestimmt auch mal jung und können sich erinnern: Mit zunehmendem Alter verschieben sich die Prioritäten. Erst will man möglichst viel rumkommen – so wie das jugendliche Flink, das mit seinen anderthalb Jahren bereits Aachen, Berlin, Bochum, Bonn, Bottrop, Braunschweig, Bremerhaven, Chemnitz, Darmstadt, Dortmund, Dresden, Duisburg, Düsseldorf, Erlangen, Essen, Frankfurt am Main, Freiburg, Hamburg, Heilbronn, Kaiserslautern, Karlsruhe, Kassel, Kiel, Köln, Krefeld, Leipzig, Ludwigshafen, Magdeburg, Mainz, Mannheim, Moers, Mönchengladbach, Mülheim an der Ruhr, München, Neuss, Nürnberg, Oberhausen, Offenbach, Oldenburg, Passau, Potsdam, Regensburg, Remscheid, Stuttgart, Wiesbaden und Wuppertal bereist hat. (Eine ganz beachtliche Deutschland-Tour.)
Und, mal ehrlich, Gorillas: Als ihr damals so zügig nach Amsterdam expandiert habt, habt ihr euch da doch wochenlang in die nächste Funding-Runde reingekifft und den ganzen Einhorn-Quatsch ausgedacht!
Irgendwann beginnt aber auch für die bislang kaum zu zähmenden Sofortlieferdienste der Ernst des Wirtschaftslebens, nämlich wenn die jungen Wilden ihren Finanzierungsberechtigten nachweisen müssen, dass sie nicht nur Kohle ausgeben können – sondern auch selber welche reinholen.
Ungefähr an diesem Punkt befinden wir uns gerade in der Adoleszenz der zahlreichen Quick-Commerce-Anbieter, von denen in den vergangenen Monaten viele so schnell aufgetaucht sind wie sich jetzt nacheinander wieder von selbst verabschieden. (Gerade hat Wuplo in Berlin aufgegeben, Jokr hat sich aus Wien verabschiedet, und in Großbritannien und den USA sind gleich eine ganze Reihe von Diensten umgefallen.)
Der Fokus verschiebt sich
Die, die bleiben (wollen), verschieben ihren Fokus. Dass es einen Bedarf für ihre Modelle gibt, haben die meisten bewiesen. Jetzt geht es darum, zu zeigen, dass damit auch Geld verdient werden kann. Und das wird gar nicht so einfach.
Berechnungen der Beratungsgesellschaft Accenture in Großbritannien gehen davon aus, dass Anbieter bei stark ausgelasteten Lagerstandorten mit Warenkörben ab 20 britischen Pfund eine minimale Handelsspanne im einstelligen Prozentbereich erzielen können, für Warenkörbe ab 30 Pfund im niedrigen zweistelligen. Andere Berechnungen sind tendenziell noch skeptischer. In jedem Fall verfolgen Gorillas, Flink, Getir & Co. mehrere Strategien, um mittelfristig zumindest in die Nähe der Profitabilität zu rücken (oder wenigstens die hohen Verluste zu minimieren).
Im Schnelldurchlauf:
- Bestellhäufigkeit und Warenkörbe müssen zunehmen. Im Schnitt bestellten Gorillas-Kund:innen im vergangenen Jahr (laut „Manager Magazin“) Waren für 21,50 Euro pro Einkauf; Ziel schien zuletzt die Anhebung auf 25 bis 30 Euro zu sein. Zumindest legen das die Vergünstigungen nahe, die regelmäßig eingeräumt werden, wenn diese vorgegebenen Schwellen beim Einkauf erreicht werden. (Um die teilweise hohen Rabattsummen wieder reinzuholen, müssen Kund:innen aber anschließend sehr, sehr oft wieder bestellen.)
- Für höhere Warenkörbe sind größere Sortimente (und eine bessere Verfügbarkeit der Produkte) notwendig – dafür braucht es im Zweifel größere Lagerflächen als zu Beginn des Hypes. Und: je größer das Sortiment, desto zeitkritischer die Kommissionierung.
- Anfangs konnten sich Gorillas-Kund:innen auch einzelne Produkte nachhause liefern lassen; inzwischen gibt es einen Mindestbestellwert und Zusatzkosten bei Unterschreitung desselben. (Von der günstigen Liefergebühr unter zwei Euro scheint man aber bislang nicht abrücken zu wollen.)
- Die Einführung von Eigenmarken rückt in den Fokus, um bessere Margen zu erzielen: Flink hat seine Fruchtaufstriche (siehe Supermarktblog) gerade durch „Flink’s Firnest“-Suppen (Curry, Linse, Tomate u.a.) ergänzt; Gorillas dürfte bald nachziehen.
- Direktverhandlungen mit großen Markenherstellern würden helfen, Produkte nicht mehr vorrangig über Großhändler beziehen zu müssen.
- Dazu kommen Kooperationen mit großen Handelsketten, um Zugriff auf deren Eigenmarken zu erhalten und von Einkausfvorteilen zu profitieren: Gorillas praktiziert das bereits mit Jumbo in den Niederlanden, Monoprix in Frankreich und Tesco in Großbritannien.
Quick Commerce verschmilzt mit dem Markt
Die eigentliche Frage ist aber: Wie verändert sich durch diese Initiativen und Partnerschaften der Quick Commerce selbst?
Der britische Anbieter Jiffy glaubt: ziemlich grundlegend. Beim Start-up, das sein bisheriges Wirbelwind-Logo vor kurzem durch ein fliegendes Rotkehlchen ausgetauscht hat, ist man der Überzeugung, dass die in der Anfangsphase versprochene Schnelligkeit weiter eine Rolle spielen wird – aber nicht mehr die alleinige. Es gehe Kund:innen zunehmend darum, neue Produkte zu entdecken, regionale Marken zu unterstützen und günstige Eigenmarken zur Verfügung zu haben. Jiffy-Co-Gründer Igor Demishev erklärte zudem im Fachmagazin „The Grocer“:
„In Jiffy, we strongly believe that the q-commerce model will be adopted by different e-commerce players currently operating with traditional delivery.“
Verschmilzt die schnelle Lieferung von Lebensmitteln also mit dem klassischen Online-Lebensmittelhandel? Zumindest gibt es im europäischen Ausland erste Anzeichen dafür.
1. Händler + Quick-Commerce-Anbieter
Das zur Casino-Gruppe gehörende Monoprix hat Anfang Februar seinen eigenen Quick-Commerce-Dienst gestartet: Monop’hop ist als separate App im weiß-roten Monoprix-Markendesign verfügbar und lässt registrierte Kund:innen aus 2.000 Produkten auswählen, von denen die Mehrheit Eigenmarken der Handelskette sind. Die Lieferung erfolgt ab einem Mindestbestellwert von 20 Euro innerhalb von 20 Minuten – und zwar direkt aus 180 Monoprix-Filialen übers ganze Land verteilt. Die Lieferung überlässt man den Partnern Deliveroo und Gorillas. Das Versprechen lautet: Wir sind mit unseren Läden ohnehin schon um die Ecke, von da kommen wir zu euch. Oder, noch kürzer:
„Bestellen, hop, schon da!“
Außerdem liefert Monop’hop („L’App qui vous sauve les courses“ – die App, die Ihnen den Einkauf spart) Nutzer:innen Rezepte für schnell zubereitete Essen gleich mit: notwendige Zutaten werden mit einem Klick in den Einkaufswagen gelegt.
Jumbo in den Niederlanden scheint einen ähnlichen Service anzupeilen. In der Mitteilung zum Einstieg bei Gorillas heißt es, dass die schnelle Belieferung mit Lebensmitteln in Zukunft auch per Bestellung über Jumbo-eigene Kanäle erfolgen soll; die Lieferung übernähme dann Gorillas. Die genauen Modalitäten würden derzeit verhandelt.
2. Plattformbetreiber + Händler
Deliveroo, das sich vom Restaurantessen-Lieferservice immer stärker zum Universalbringdienst wandelt (und neuerdings auch Bücher von WH Smith zustellt, z.B. dieses hier), hat in Großbritannien seinen Quick-Commerce-Service „Deliveroo Hop“ gestartet, bei der Lebensmittel aus eigenen Warenlagern geliefert werden. Als erster Partner war die Supermarktkette Morrisons an Bord, die ihre Eigenmarken zur Verfügung stellt.
Wettbewerber Waitrose ist kürzlich dazu gekommen und hat für die Partnerschaft einen eigenen innerstädtischen Darkstore im Londoner Stadtteil Bermondsey eröffnet („Waitrose by Deliveroo HOP“) – offen von 8 Uhr morgens bis Mitternacht. Zur Auswahl stehen 1.000 Produkte, größtenteils Waitrose-Eigenmarken. Es sei wichtig, dass man sich dem veränderten Einkaufsverhalten der Kund:innen anpasse, lässt sich Waitrose-Chef James Bailey in einer Mitteilung des Unternehmens zitieren. Bestellt wird jeweils über die Deliveroo-App.
Gerade hat Deliveroo zudem bekannt gegeben, Deliveroo Hop auch in Italien zu starten und dafür mit Carrefour zu kooperieren. Auf Mailand, wo Kund:innen zuerst bestellen können, sollen zügig weitere Städte im Land folgen.
3. Quick-Commerce-Anbieter + Hersteller
Die dritte Entwicklung ist die hin zum „Quick Commerce as a Service“, bei dem Sofortlieferanbieter ihre Dienste z.B. Herstellern oder Restaurantketten direkt zur Verfügung stellen – ohne Umweg über Händler. In London liefert Jiffy für die Craft-Beer-Kette Brewdog Bier innerhalb von 15 Minuten aus (im Umkreis der eigenen Warenlager). Die Bestellung erfolgt nicht über die Jiffy-App, sondern auf der Brewdog-Website. Jiffy taucht nur noch im Kleingedruckten als Logistikpartner auf.
Brewdog verspricht Kund:innen explizit, dass sie so auf den Besuch im Supermarkt verzichten können („eliminate supermarket trips“) – wodurch sich die Direktbeziehung etablierter Marken zu ihren Kund:innen nachhaltig stärken ließe.
Deutschland wartet ab
In Deutschland stehen derartige Entwicklungen bislang noch aus. Das Potenzial für Kooperationen mit Lebensmittelhändlern, die auch Eigenmarken liefern könnten und über zahlreiche Filialstandorte verfügen, ist zwar noch nicht ansatzweise ausgeschöpft – allerdings hält sich die Bereitschaft von mindestens drei der vier marktbeherrschenden Handelsketten, entsprechende Experimente einzugehen, angesichts hoher Marktanteile im Stammgeschäft bislang stark in Grenzen (siehe Supermarktblog).
Das erschwert den Quick-Commerce-Diensten die Adaption von Partnerschaften, die sie im Ausland sehr viel leichter eingehen konnten; es sorgt aber womöglich auch dafür, dass kleinere Handelsketten und Hersteller Chancen wittern, die ihnen bislang verwehrt waren.
Tegut testet bereits die Lebensmittel-Lieferung über Wolt; es dürfte bloß noch eine Frage der Zeit sein, bis auch erste Marken die Direktlieferung ihrer Produkte an Kund:innen ausprobieren.
Sie sehen schon: Die Frage, ob der Quick-Commerce-Hype tatsächlich zur Revolution im Online-Lebensmittelhandel taugt, oder sich doch als Rohrkrepierer herausstellt, muss vorerst weiter unbeantwortet bleiben. Möglich ist derzeit nämlich – beides.
Wir tendieren im Zeitalter von Social Media zu der kollektiven Wahrnehmung, dass solche Hypes mittel- bis langfristig bestehende Strukturen beeinflussen oder sogar ablösen.
Im Falle der Lieferdienste bleibe ich tiefenentspannt, da das Angebot selektiv nur in Ballungsräumen genutzt werden kann und dort erwartungsgemäß keine zufriedenstellenden Margen generiert werden können. Schade um das verbrannte Geld. Nun gilt es die Lücke zu finden, die sich bis jetzt noch sehr gut versteckt.
Bin immer noch erstaunt wie sich Fachleute des LEH für solche Projekte haben abwerben lassen. Die Stellenausschreibungen wurden aber auch wirklich wie Sauerbier von gewissen Headhuntern angeboten.