Anstatt immer nur rumzunörgeln, wird es höchste Zeit, dass auch mal wer anerkennt, was Kağan Sümer in den vergangenen beiden Jahren geleistet hat. Immerhin stellte der Gorillas-Gründer ein Unternehmen auf die Beine, über dessen logistische Kernkompetenz – die sofortige Zustellung von Lebensmitteln, auf die fast alle etablierten Handelsketten davor null Bock hatten – fast niemand mehr redet, weil es für die Medien ständig irgendeine Katastrophe, eine strategische Kehrtwende oder einen Personalabgang zu kommentieren gibt.
Und das muss man so auch erstmal hinkriegen.
Nach Monaten des schnellen Wachstums und immer neuen Finanzierungsrunden scheint das Quick-Commerce-Geschäft derzeit länderübergreifend an seine Grenzen zu geraten.
Getir aus der Türkei hat angekündigt, massiv Personal zu reduzieren und die bisherigen Expansionspläne zurück zu fahren, der bisherige Deutschland-Chef ist auch weg. In Großbritannien geht es Zapp ganz ähnlich, und Mitbewerber Jiffy hat angekündigt, mit sofortiger Wirkung zum reinen Liefersoftware-Anbieter zu werden, um nicht auf Jahre hinweg unprofitabel zu bleiben. Selbst GoPuff aus den USA hat mit Schwierigkeiten zu kämpfen.
Eine lange Liste mit Abschieden
Am prominentesten aber wurde (hierzulande) in den vergangenen Wochen über die Stellenstreichungen bei Gorillas berichtet, das sich sein Büro in Amsterdam zu Gunsten der Gründungsheimat Berlin spart, in diesem Zuge 300 Mitarbeiter:innen entlassen und gerade seine Personalchefin verloren hat (die sich einreiht in eine lange Liste prominenter Namen, die dem gehypten Start-up nach kurzer Zeit wieder abhanden gekommen sind).
Sümer hat einen offenen Brief an seine Mitarbeiter:innen verfasst, in dem er die Entlassungen bedauert und ankündigt, es brauche einen neuen Plan, um der zunehmenden Skepsis der Investor:innen zu begegnen. Denen ist zwischenzeitlich aufgefallen, dass sie Milliarden in ein Geschäftsmodell gepumpt haben, das sich lange an der Erfüllung der vollmundig getätigten Versprechen abmühen musste, mit denen die Gelder dafür überhaupt erst eingeworben wurden. (Und eher zögerlich mit den Realitäten des Markts.)
Inflation und wachsende Vorsicht der Konsument:innen beim Geldausgeben erschweren es nun zusätzlich, das erklärte Ziel zu erreichen – und zumindest ansatzweise profitabel zu werden, anstatt in immer neuen Runden noch mehr Kapital zu verlangen.
Herr Kapitän, Ihr „Runway“ ist zu Ende
Zumal das mit Sümers reger Bewertungsfantasie seines Unternehmens ohnehin sehr viel schwieriger geworden ist. Der „FT“-Start-up-Ableger „Sifted“ berichtet, Gorillas habe nach Auskunft unternehmensnaher Quellen Probleme am Goldeselmarkt – und könne ohne weitere Finanzspritze bald auf dem Trockenen sitzen:
„One source estimates that, at the end of May, the company had €300m in its bank account and was burning through €60m a month.“
Was im schlimmsten Fall bedeuten würde, dass noch vor Jahresende Schluss wäre mit dem ganzen Einkaufszauber. (Um Städte weiterhin mit sinnbefreiten Werbekampagnen behängen, die das vermeintlich coole Image stärken sollen, scheint die Kohle aber nach wie vor auszureichen.)
Die gerade vollzogene personelle Verschlankung könne ebenso bedeuten, dass Gorillas einen potenziellen Käufer gefunden habe, lässt „Sifted“ seine Quellen aus „Berlin’s tech scene“ alternativspekulieren.
Und sehen Sie’s mir nach, dass ich hier weder Interna aus der hiesigen Fremdkapitalverbrennungsbranche herausraune, noch Zugang zum aktuellen Kontostand vielbeachteter Milliarden-Start-ups habe, aber: Es gäbe da natürlich noch eine weitere Möglichkeit, wie das Märchen mit den Affen (vorerst) weitergehen könnte. Indem Gorillas zur weitgehend regulären Supermarktkette mit angeschlossener Lieferlogistik umgebaut wird. Totaler Quatsch? Naja, kommt auf die Perspektive an.
Zentrale Versprechen sind passé
Fakt ist, dass Gorillas, um Verluste zu begrenzen, bereits jetzt zahlreiche Versprechen aus seiner Gründungsphase wieder einkassiert hat, die jetzt von den beklebten Fensterscheiben der Warenlager wieder abgekratzt werden (und zwar im wahrsten Sinne des Wortes).
- Die 10-Minuten-Lieferung – einst zentrales Argument gegenüber Kund:innen und Investor:innen – ist (wie an dieser Stelle prognostiziert) längst passé, geliefert wird jetzt „in Minuten“ (die auch mal, je nach Tageszeit, Auslastung und Adresse, zu einer Stunde werden können).
- Dem Versprechen, Produkte zu „Supermarktpreisen“ zu liefern, wird man nur noch teilweise gerecht: Viele Artikel sind inzwischen deutlich teurer als im Laden und auf Späti-Niveau.
- Offiziell gibt es bei Bestellungen zwar weiter keinen Mindestbestellwert. Die Einführung zusätzlicher Lieferkosten für alle Einkäufe unter 15 Euro (zunächst: 10 Euro) in Deutschland entspricht aber de facto der Abschaffung dieser Zusage.
- In den Niederlanden ist Gorillas dazu übergegangen, erst ab 20 Euro zu den bisherigen Konditionen zu liefern. Dafür fällt die Zustellgebühr ab einem Warenkorbwert von 35 Euro komplett weg. (Einen ähnlichen Test gab es hierzulande schon mal Gutschein-basiert.)
Gleichzeitig wird das Geschäft mit Eigenmarken angekurbelt: Über die kommenden Wochen sollen rund 50 Produkte aus elf Kategorien unter den vier Labels „Gorillas Daily”, „Gorillas Premium”, „Hot Damn” und „< start-up beer >” verfügbar sein (was unnötig unübersichtlich wirkt, aber das passt ja zur Marke). Trotz des für den 9. Juni angekündigten Starts sind die Produkte in der App aktuell noch nicht gelistet (Stand: Samstagabend, Berlin).
Klingt verdächtig nach Supermarkt
Kurz zuvor hatte Gorillas bereits bekannt gegeben, „über 250 der begehrtesten Produkte von Alnatura ab dem 10. Juni in der deutschen Gorillas-App“ zur Verfügung zu stellen, um den Anteil günstiger Bio-Artikel im Sortiment zu vergrößern. (Bislang entgegen der Zusage ebenfalls nur sehr eingeschränkt verfügbar.)
Und wer bei Gorillas in Amsterdam ordert, kann dem bzw. der Kurierfahrer:in an der Tür gleich was zurückgeben: ein (vorfrankiertes) Paket bis 3 Kilo nämlich, das für 99 Cent für den Versand bei der Niederländischen Post, DHL, DPD oder GLS eingeliefert wird:
„We want to make it as easy as possible for you, by hallowing you to use our package return service at the same time as your normal grocery order.“
Eigenmarken, Bio-Partnerschaft und Paketservice – klingt irgendwie verdächtig nach dem, was die stationären Handelsketten vorgemacht haben. Bleibt noch die Frage, ob es beim Ziel, Geld zu verdienen, nicht auch hilfreich wäre, Kund:innen ihre Einkäufe auf Wunsch auch direkt am Warenlager in ihrer Nachbarschaft abholen zu lassen.
Abholung im Laden ohne Regale
Wettbewerber GoPuff, dessen Deutschland-Start in der aktuellen Marktsituation zunehmend fraglicher wird, probiert es schon genau so – teilweise, weil er keine andere Wahl hat. Wie das aussieht, lässt sich z.B. im New Yorker Stadtteil Tribeca ansehen, direkt am Metro-Eingang Canal Street (um die Ecke des Ghostbusters HQ). Dort sind die Fensterscheiben des GoPuff-Mini-Warenlagers nicht vollständig abgeklebt, sondern mit einer Einladung geschmückt:
„We’ll deliver all you need in minutes
Or just come in“
Liefernlassen oder einfach reinkommen: Die Kundschaft soll selbst entscheiden. Wer seinen Einkauf an Ort und Stelle mitnehmen will, kann ihn in der App zur Abholung ordern, spart sich die Lieferkosten und trinkt, falls er kurz warten muss, ein Kaltgetränk aus der Kühlung oder bestellt einen Kaffee, ein Milchshake oder eine Pizza am Tresen.
(Treuen Supermarktblog-Lesern wird das Konzept nicht ganz unbekannt vorkommen.)
Regale mit Produkten gibt es in diesem „Laden“ keine. Im Grunde genommen hat das Warenlager, aus dem die Bestellungen kommissioniert werden, bloß einen halbwegs vorzeigbaren (aber auch nicht zu einladenden) Empfang für lieferunwillige Laufkundschaft bekommen. Aber für Gopuff ist das nicht nur die Möglichkeit, die eigene Kurierflotte zu entlasten – sondern auch, den Vorgaben der New Yorker „zoning resolution“ zu entsprechen. Die sagt, dass reine Fullfilment Center, also Warenlager, ausschließlich in „manufacturing“ und teilweise „commercial districts“ eröffnet werden können. Ist ein Standort aber auch für Kund:innen begehbar, die dort direkt einkaufen können, wird er quasi zum Laden – und auch in Wohngegenden geduldet.
Gorillas testet „Coffee & Collect“ in London
Mit der Übernahme der beiden US-Ketten Bev Mo! und Liquor Barn bzw. 180 Läden verfügt Gopuff auch andernorts über Flächen, die für ein solches Modell geeignet wären.
Einem Bericht von „Modern Retail“ zufolge testet auch Gorillas ein „Walk-in“-Konzept an einem Standort in Downtown Manhattan (NYC-Liefergebietübersicht hier).
Und in London hat Gorillas gerade in Kooperation mit der Hilfsorganisation Change Please erstmals eine Abholstation mit angeschlossenem Mini-Café eröffnet („Coffee & Collect“). Ein genauer Standort ist bislang nicht kommuniziert. Aber es liegt nahe, dass das Start-up auf diese Weise testet, wie eine (bei britischen Kund:innen ja schonsehr viel etabliertere) Abholmöglichkeit genutzt wird.
In Deutschland wird diese bereits vom Lieferkonkurrenten Wolt getestet, das in seinen bislang drei Berliner Wolt Markets auch eine App-Bestellung zur Direktabhoilung („in 10 – 15 Minuten“) anbietet. Die Option wird derzeit aber nicht bzw. ausschließlich im direkten Umfeld der Markets aktiv beworben. In der App müssen Nutzer:innen „zur Kasse gehen“ und unter „Bestelldetails“ auf die Option „Ändern“ neben der „Lieferung“ tippen, um einen Reiter zur „Abholung“ angezeigt zu kriegen. (Bei iOS; in der Android-App ist das richtig dämlich gelöst, dort muss man direkt auf „Lieferung“ tippen, um „Abholung“ angezeigt zu bekommen.) Nach Wolt-Angaben habe sich die Abholption bereits „bewährt“.
Schwieriger Umbau der Bärenhöhlen
Was passiert, wenn das auch für Gorillas erfolgreich wäre?
Größere Umbauten klassischer Gorillas-Warenlager dürften in vielen Fällen nicht so leicht zu realisieren sein. An vielen Standorten ist der Platz wegen des stark gewachsenen Sortiments ohnehin schon beschränkt; teilweise werden freie Flächen gebraucht, um dort die E-Bikes zu parken, damit die nicht wieder die Gehwege versperren und neue Beschwerden von Anwohner:innen provozieren. Dazu kommt, dass viele Gorillas-Warenlager, wenn man beim Vorbeikommen reinschaut, eher den Charme einer weitgehend lichtlosen Bärenhöhle versprühen – und nicht unbedingt dazu einladen, dort auf eine gemütlichen Kaffee zu verweilen. (An manchen hängt bislang sogar explizit der Hinweis: „DO NOT ENTER!“)
Kurz gesagt: Die Integration zumindest halbwegs kund:innenfreundlicher Abholoptionen würde vielerorts einen erneuten Strategiewechsel für die Auswahl geeigneter Immobilien bedeuten.
Außerdem hat Gorillas in den Niederlanden (gemeinsam mit anderen Lieferdiensten) gerade erst einen „Code of Conduct“ unterschrieben, um auf den von mehreren Städten vorübergehend verhängten Anmietstopp neuer Lagerflächen in der Stadt zu reagieren. Darin verpflichten sich die Unternehmen selbst zu diversen Maßnahmen, um Beeinträchtigungen für Anwohner:innen möglichst gering zu halten.
Niemand holt gern im Industriegebiet ab
„For example, the four companies promise to ‚choose their locations with care‘. So there will be no dark stores ‚in central shopping streets, pedestrian zones or in the vicinity of primary or secondary schools‘“,
berichtet „Business Insider“. Standorte, die zukünftig verstärkt außerhalb von Wohngebieten lägen, wären aber sehr viel weniger als Abholgelegenheit für App-Einkäufer:innen geeignet. Weil niemand extra Umwege in Kauf nehmen wird, um seine bestellten Lebensmittel einzusammeln.
Anders gesagt: Auf dem Weg zur Supermarktwerdung gäbe es für Gorillas noch so manche Steine aus dem Weg zu räumen, über die es sich auch mit breitreifigen E-Bikes nicht so leicht hinwebrettern lässt.
Sich alternativ darauf zu verlassen, künftig mit einer unberechenbarer gewordenen Lieferung teurerer Produkte an Kund:innen, die beim Lebensmitteleinkauf stärker auf die Preise achten, profitabel werden zu können, bräuchte schon ein hohes Maß an Ignoranz gegenüber der aktuellen Lage. Was, wenn einem schon einmal etwas schier Unmögliches gelungen ist, vermutlich machbar klingt. Mit dem klitzekleinen Unterschied vielleicht, dass es dieses Mal nicht gut gehen wird.
ab1.Oktober steigt der Mindestlohn auf 12 Euro,das wird das komplette Gehaltsgefüge stark nach oben drücken
dazu die Lebensmittelinflation, die dazu führt, dass man eher keine Grosseinkäufe bei Gorillas macht und dass Gorillas für Zielgruppen wie Studenten deutlich unattraktiver wird
dazu kommt, dass alle Lieferdienste ihre Expansion in weitere Städte zurückfahren werden, damit nicht zusätzlich Cash durch hohe Anlaufverluste verbrannt wird
Bullshit mit 20 Euros Minimum Order in NL. Grad noch in Amsterdam lekker Heineken bestellt!
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Und Ihr „lekker Heineken“ (mind. 6,29 €) war dann dank Zuschlag für Bestellungen unter 20 Euro fast genauso teuer wie die Liefergebühr (1,99 € regulär + 3,00 € Zuschlag = 4,99 €). Bin nicht ganz sicher, wieviele Kund:innen sich das dauerhaft leisten wollen.