Vier Jahre hat Jean-Jacques van Oosten Zuhörern auf Konferenzen erklärt, warum er Ende 2013 fast nicht bei Rewe gelandet wäre – dieser lustigen deutschen Handelskette mit integrierter Tourismussparte, die ihm einen dicken Dienstwagen aufzwängen und in ein viel zu großes Büro sperren wollte, damit er sie fit fürs digitale Zeitalter macht.
Aber das hat sich „JJ“ nicht gefallen lassen. Und (ganz locker im Kapuzenpulli) erzählt, wie er als Vorsitzender der Geschäftsführung von Rewe Digital stattdessen eine völlig neue Arbeitskultur ins Unternehmen schmuggelte – ohne Hierarchien und Terminvereinbarung beim Chef. (Und mit nur ganz, ganz kleinen Dienstwagen.) Bei Rewe Digital wird seitdem ganz ungezwungen an der Kaffeemaschine darüber geplaudert, wie sich den Kunden Gutes tun lässt.
Was genau van Oosten, der zuvor u.a. für Tesco, Unilever und Kingfisher tätig war, zuletzt noch alles bei Rewe umgekrempelt haben könnte, lässt sich nicht so genau sagen.
Im Frühjahr hielt er fast denselben Vortrag, den er schon 2014 für die Londoner Noah-Konferenz memoriert hatte, auf der Javaland-Konferenz nochmal – immer noch mit denselben schiefen Uralt-Beispielen und veralteten Firmenlogos auf den Power-Point-Folien.
Das bleibt ihm (und den Besuchern der nächsten Konferenz Shoptalk Europe, für die van Oosten im Oktober als Referent angekündigt war; die Seite wurde inzwischen gelöscht) künftig erspart: Wie Rewe am Mittwoch bekannt gab, beendet „JJ“ zum 1. Oktober seine Tätigkeit für das Unternehmen „aus persönlichen Gründen“ (siehe nebenan bei Exciting Commerce).
Die Geschäftsführung der Firmentochter Rewe Digital ist groß genug, um das nicht weiter auffallen zu lassen. Darauf scheint man sich am Sitz in Köln-Mülheim ohnehin seit einiger Zeit spezialisiert zu haben: nicht weiter aufzufallen.
In Acht vor Amazon
Dabei gehörte Rewe, als van Oosten 2013 engagiert wurde, tatsächlich zu den Online-Vorreitern im deutschen Lebensmitteleinzelhandel: Der Konzern und sein Vorstandsvorsitzender Alain Caparros hatten früh verstanden, dass es trotz hoher Kosten unverzichtbar sein würde, in Online-basierte Dienste zu investieren – um sich in dem gerade erst entstehenden Markt frühzeitig zu positionieren. Und um neuen Herausforderern wie Amazon zuvorzukommen, die Rewe schon in anderen Geschäftsfeldern die Umsätze vermasselt hatten. (Die Elektronikmarkt-Tochter ProMarkt ist deshalb seit 2013 Geschichte.)
Das sollte sich mit dem Hauptgeschäftsfeld, dem Handel von Lebensmitteln, keineswegs wiederholen.
Deshalb setzte Rewe früh den Aufbau eines eigenen Lieferdiensts für frische Lebensmittel durch und expandierte damit nicht nur in zwei, drei Ballungsräume, wie der damalige Pionier Kaiser’s Tengelmann (später: Bringmeister), sondern holte den Dienst nach und nach in über 70 deutsche Städte.
Der frühe Start war Fluch und Segen zugleich. Fluch vor allem deshalb, weil die Korrektur der anfangs gemachten Fehler teuer gewesen sein muss und viel Zeit brauchte: der Aufbau eines Webshops mit passabler Suchfunktion, die mühselige Umrüstung von der Ladenkommissionierung zur Lieferung aus zentralen Lagern, der stetige Kampf mit der Warenverfügbarkeit.
Und Fluch auch, weil es schwer ist, einen Dienst weiterzuentwickeln, der in so vielen Städten gleichzeitig funktionieren muss, wenn er nicht noch höhere Verluste einfahren soll als das ohnehin schon der Fall ist.
Lernen aus fremden Fehlern
Das, was Rewe mit viel Mühe und Mut zu Experimenten richtig gemacht hat, haben sich sehr viel später gestartete Konkurrenten wie Kaufland einfach abschauen können. Im Moment zwar nur für einen überschaubaren Markt: den in Berlin – aber dafür ohne teure Umwege und mit umso größerem Engagement, all die Fehler zu vermeiden, mit denen sich der Konkurrent zum Teil noch heute herumschlagen muss.
Nach der Übernahme von Kaiser’s Tengelmann ist selbst der langjährige Online-Verweigerer Edeka mit erstaunlichem Engagement ins Liefergeschäft eingestiegen und will Bringmeister nach vorne bringen. Im April ist schließlich Amazon Fresh in Deutschland aufgeschlagen – genau das, worauf sich Rewe so lange vorbereitet hatte.
Und jetzt? Macht man in Köln einfach so weiter, als sei nichts passiert. Und läuft deshalb Gefahr, aus der Rolle des Vorreiters in die des Nachzüglers abzurutschen.
Während Kaufland mit kompetitiven Preisen punktet, zahlen Kunden, die dieselben Markenprodukte bei Rewe bestellen, oft üppige Aufschläge (auch im Vergleich zum Preis im Laden). Lieferung am selben Tag und im Ein-Stunden-Zeitfenster? Da lässt Rewe großzügig Bringmeister den Vortritt. Amazon Fresh punktet derweil nicht nur mit zeitnaher Auslieferung und riesigem Sortiment, sondern verbündet sich zudem mit lokalen Herstellern und Lieferanten, um sich zu differenzieren.
Neue Funktionen im Schneckentempo
In seinem Konferenzvortrag von 2014 hatte JJ van Oosten als frisch gebackener Rewe-Digitalchef erklärt:
„Alle drei Wochen bringen wir neue Funktionalitäten [in den Shop]. In sechs bis neuen Monaten wird das täglich der Fall sein.“
Aus heutiger Sicht wirkt das wie ein Witz. Im Laufe der Zeit hat Rewe sein Lieferservice-Angebot für die Kunden eher verschlechtert (siehe Supermarktblog – und gleich nochmal). Mit neuen Funktionalitäten hält man sich dagegen arg zurück.
Im Januar startete ein Test mit Kölner Kunden, die per „Lieferflat“ nach monatlicher Einmalzahlung so oft bestellen konnten, wie sie wollten. Die Idee ist hervorragend, von der österreichischen Tochter Billa abgeguckt (siehe Supermarktblog) – aber technisch sehr viel unausgereifter und eher unpraktisch (siehe Supermarktblog). Vor kurzem hat Rewe die „Lieferflat“ auch Berliner Kunden zugänglich gemacht, Monate nachdem Amazon Fresh mit seiner eigenen Lieferflat-Variante an den Start ging. (Und offensichtlich ohne technische Optimierung.)
Im Mai meldete Rewe verzückt, dass Kunden künftig eine SMS kriegen, wann ihre Lieferung ankommt:
Bei Kauflands Lieferservice war das zu diesem Zeitpunkt bereits seit Monaten Standard, auch Amazon macht Kunden klare Lieferansagen. Rewes Kundenmail flötete dennoch selbstbewusst:
„Nutzen Sie die gewonnene Zeit für die Dinge, die Ihnen wirklich wichtig sind“
– obwohl die SMS zu Stoßzeiten in schöner Regelmäßigkeit vor allem Verspätungsmeldungen ankündigt:
Weil es sonst kaum Argumente gibt, mit denen man sich von den zahlreichen Wettbewerbern abheben könnte, versucht Rewe wieder verstärkt, mit Ermäßigungen zu locken, die im Zweifel sogar wöchentlich verschleudert werden („Nach jedem eingelösten Gutschein erhalten Sie einen neuen Gutschein“), und verschenkt „Treue-Prämien“ für Oftbesteller („Prämien-Codes sammeln und tolle Geschenke sichern“).
Bitte, bitte bleiben Sie uns treu
Im stationären Lebensmittelhandel mag das Standard sein – aber wer seinen Bringdienst-Kunden permanent Extra-Einladungen verschicken muss, damit die an Bord bleiben, macht womöglich etwas Grundlegendes falsch, weil er ganz offensichtlich nicht alleine mit seinem Service überzeugen kann.
Das heißt nicht, dass Rewes Lieferservice nicht weiter ein nützlicher, zuverlässiger Dienst wäre, der größtenteils gut funktioniert. Nützlich und zuverlässig können die anderen aber längst genauso gut.
Dass echte Innovationen aus Köln ausbleiben, mag auch daran liegen, dass aus dem kleinen agilen Team, das van Oosten am Anfang beschwor, inzwischen ein auf über 500 Mitarbeiter angewachsenes Digitalunternehmen mit vielen Baustellen geworden ist – ein kleiner Tanker, der an einem noch größeren Tanker hängt.
Rewe-Digital-Mitgeschäftsführer Johannes Steegmann erzählt gerne davon, wie toll das ist, dass man sich seine eigene Shop-Software eingekauft habe, wie hilfreich es sei, mit der aufgebauten Mediaabteilung selbst Werbeflächen einzukaufen, und zeigt stolz die in Köln-Mülheim eingerichtete Showküche, in der Köche Rezepte für die Kunden austüfteln, die fertig zubereitet von Fotografen für die Communitys auf Instagram und Facebook festgehalten und später in farbexplosiven Newslettern verschickt werden.
Nur eine Vision für den Lieferservice kriegt man aus Steegmann, der nicht ganz so mitreißend referiert wie einst van Oosten, keine heraus. Im schlimmsten Fall: weil da keine ist.
Auch dem zuständigen Konzernvorstand Jan Kunath ist bei der Bilanz-Pressekonferenz im Frühjahr nichts Besseres eingefallen als ein alberner Frischethekenvergleich: Bei denen frage auch niemand, ob sie sich für einen Händler rechneten. Und selbst wenn nicht, könne man trotzdem nicht so einfach drauf verzichten. Online-Euphorie sieht anders aus.
Was ist morgen lieferbar?
Offensichtlich hat man in Köln-Mülheim beim vielen lockeren Rumstehen an der Kaffeemaschine ein Stück weit das Gespür dafür verloren, was es bedeutet, den Kunden in den Mittelpunkt der eigenen Arbeit zu stellen. Kürzlich hat Steegmann angekündigt, den Rewe Online-Shop zum „Marktplatz“ umzubauen, also (wie viele Wettbewerber) für die Bestellung von Nicht-Lebensmitteln von Partnerunternehmen zu öffnen (siehe Supermarktblog).
Ob bei Rewe Digital wirklich jemand glaubt, dass es das ist, was sich die Kunden am sehnlichsten wünschen?
Wär’s nicht viel praktischer, direkt bei der abendlichen Bestellung zu wissen, dass der in virtuellen Einkaufswagen gehievte Bio-Ziegengouda am nächsten Tag zur Lieferung gar nicht mehr verfügbar sein wird, obwohl der Lieferservice den sogar noch als Ersatzartikel für einen anderen nicht vorhandenen Artikel vorschlägt?
Noch im Frühjahr hat Digitalchef van Oosten es als Durchbruch verkauft, dass sich Rewe darauf eingestellt habe, berechnen zu können, ob Bestellartikel zum Lieferdatum tatsächlich verfügbar sein werden – und, falls nicht, konkrete Ersatzartikel anbieten zu können. Dass das auch heute, zwei Jahre nach der Einführung, noch nicht für alle Warengruppen machbar ist, hat er nicht dazu gesagt (siehe Sternchentext oben: „Zur Zeit können wir leider noch nicht alle Kategorien überprüfen.“)
Standards setzen jetzt die anderen
Kaufland und Amazon kann’s freuen: Die schlagen sich erst gar nicht mit Ersatzartikeln rum. Sondern liefern (in der Regel) einfach das, was bestellt wurde. Oder wissen zuverlässig, was garantiert nicht da sein wird, bevor der Kunde auf „Bestellung absenden“ geklickt hat.
Gegenüber der Konkurrenz hat Rewe zweifellos immer noch den Vorteil, sich bereits in vielen deutschen Städten als verlässlicher Lieferservice für frische Lebensmittel etabliert zu haben. Aber – ähnlich wie in Berlin – bedeutet das nicht, dass die Kunden nicht bereit wären, Alternativen auszuprobieren, wenn die versprechen, günstiger, schneller oder vielfältiger zu sein. Da hilft’s auch nix, wenn man stattdessen mit den schönsten Rezeptfotos glänzen kann.
Mit seinem Lieferservice mag Rewe zu den Pionieren in einem Markt gehört haben, der immer noch dabei ist, sich zu entwickeln. Aber die dafür gültigen Standards setzen schon seit Monaten die anderen.
Vielleicht ist das ja auch Jean-Jacques van Oosten aufgefallen.
Fotos: Supermarktblog
Und munter weiter dreht sich das Personalkarussel. Bei REWE geht van Oosten, bei Bringmeister ist Boris Frank als Sprecher des Vorstandes nicht mehr dabei.
Bleibt abzuwarten, wer wirklich neue Impulse setzen wird.
True Story ?
Wir wollten den Rewe Lieferservice an einem Tag nutzen wo mein Mann krank war, aber es gab keine Chance am gleichen Tag zu bestellen. Wir hätten auch einen Express Zuschlag gezahlt oder irgendwelche Mindestbestellmengen eingehalten. Schade, dass man auch solche Chancen vertut.
Hier ein aktueller Preisvergleich inkl. Rabattschlacht zu REWE und KAUFLAND
http://www.modersohn-magazin.de/2017/10/02/preisvergleich-lieferdienste-rewe-und-kaufland-mit-rabatt-vergleich/
Und die Konkurrenz wird größer, im Frühjahr 2018 startet MyEnso bundesweit, nachdem sie zur Zeit in Bremen den Lieferservice mit 2000 Kunden testen. Sie wollen besondere Wünsche von Kunden berücksichtigen und ein Einkaufserlebnis in Kategorien und nicht nach Katalog in ihrem Online-Shop anbieten. Pressemitteilung unter: http://www.presseportal.de/pm/128195/3757605?utm_source=directmail&utm_medium=email&utm_campaign=push
[…] mangelt. Viel geeigneter für eine Analyse ist der führende LEH Blogger Peer Schader, der sich die Mängel von REWE in einem Beitrag vor 4 Wochen genauer angeschaut […]
[…] Die Preispolitik der Produkte ist über die Kanäle hinweg nicht stringent: Der Rewelieferservice bietet online keine günstigeren Preise für die Verbraucher, ganz im Gegenteil bei einem Großteil der Produkte zahlen Kunden Aufschläge im Vergleich zu den herschenden Preisen in den eigenen Filialen. Supermarktblog) […]