Anfang Juni ist es vier Jahre her, dass Anwohner:innen in Berlin Prenzlauer Berg erstmals Werbung an ihren Türknäufen hängen hatten, auf denen ihnen ein mysteriöser Absender schier Unmögliches versprach: „Groceries at Retail Prices – in 10 Minutes“ – per App bestellt, mit dem Fahrrad gebracht. Und das Beste daran war: es funktionierte tatsächlich!
Wenige Wochen später erweiterte das Liefer-Start-up mit dem kuriosen Namen Gorillas sein Liefergebiet, für weitere Lager wurden „Dark Store Manager“ gesucht, das Sortiment wuchs stetig – und Gorillas-Gründer Kağan Sümer verriet im Supermarktblog erstmals seine Vision von einem Dienst, der sich zum Einkaufserleichterer für alle entwickeln sollte:
„There definitely is a public demand for a service like Gorillas. We have to find out how quick we can adapt to regional demand. And we’re trying to listen to what our customers tell us to achieve this adoption.“
(Bloß die Investoren dafür fehlten noch.)
Kein Jahr später hatte Sümer soviel Geld eingesammelt, dass Gorillas in Gründer:innenkreisen bereits als Unicorn gefeiert wurde – schneller, als es bis dahin jedem anderen europäischen Start-up vergönnt war.
Vom Nachbarschaftsschreck zum Politikum
Wie Gorillas auf lange Sicht Geld verdienen wollte? Das war auch damals schon ein gut gehütetes Geheimnis, das vermutlich vor allem Geldgeber:innen bildreich ausgeschmückt bekamen.
Sümers Äußerung, er habe sich vom türkischen Vorbild Getir inspirieren lassen, das mit dem Erfolg in seinem Heimatland die Vorstellungen eines profitablen Geschäftsmodells beflügelte, dürfte ebenso geholfen haben wie die Erkenntnis, dass Bestellungen von Lebensmitteln in der Corona-Krise sprunghaft angestiegen waren.
Der Rest der Geschichte ist bekannt: Vom Einkaufsermöglicher wurde Gorillas durch seine ebenso rasante wie rücksichtslose Expansion zum Nachbarschaftsschreck und Politikum, bevor der schleichende Niedergang einsetzte, als die benötigten Gelder der vorsichtiger werdenden Kapitalgeber:innen ausblieben.
Ende 2022 folgte schließlich die Übernahme durch das türkische Vorbild Getir, das sich aufgrund des europäischen Quick-Commerce-Booms aus der Deckung gewagt hatte – und sich damit, wie nun bekannt ist, in erster Linie massiv selbst schadete. Von der zwischenzeitlichen 12-Milliarden-Bewertung ist bei Getir nicht mehr viel übrig. (Und Gorillas-Gründer Sümer ist aus dem Geschäft schon lange raus.)
1,3 Milliarden sind futsch
Jetzt ist es endgültig vorbei: Kurz vor dem 4. Geburtstag (der vermutlich auf den 29. Mai fällt) hat sich Gorillas mit Getir aus sämtlichen europäischen Märkten verabschiedet – und in den verbliebenen Dark Stores das Licht ausgeschaltet (siehe Supermarktblog). In Deutschland fallen 1.800 Arbeitsplätze weg. Am Samstag gab es Abschiedsnachrichten: eher nüchtern von Getir (“Today is our last day of operations”); und hochemotional von Gorillas:
„Das war’s. Also echt. Du kannst leider nie mehr von Gorillas bestellen. Das schmerzt. Aber wir gehen mit erhobenem Haupt und bleiben stolz auf unsere einzigartige Brand. Mit all ihren Ecken und Kanten, den mutigen Plakaten, den lustigen Videos, und dem genialen Service.
Wir sind DANKBAR für euch, die treuen Kunden, die uns vertraut haben und immer wieder gekommen sind, um ihre Lebensmittel zu bestellen.
Wir sind STOLZ auf das, was wir erreicht haben und die Annahmen und Stereotypen, die wir hinterfragt haben, um Quick Commerce in Deutschland ins Leben zu rufen.
Wir sind voller LIEBE für unsere Teams und Mitarbeiter – allen voran unsere Fahrer – die das alles erst ermöglicht haben.“
„Sifted“ hat nachgerechnet: Damit sind 1,3 Milliarden in Gorillas gepumpte Investor:innengelder futsch.
Zuvor sind bereits in zahlreichen deutschen Medien Analysen dazu erschienen, in denen sich die Journalist:innen mit den meisten von ihnen befragten Export:innen einig waren: Das hat von Anfang an nix werden können. Tatsächlich sind viele Texte vor allem eine gute Auflistung der hohen Hürden, die einem Erfolg des so getauften Quick Commerce im Wege standen: zu hohe Personalkosten, weil Fahrer:innen pro Stunde bezahlt wurden; zu hohe Mieten, weil Innenstadt-Standorte benötigt wurden, um das schnelle Lieferversprechen einzuhalten; zu kleine Warenkörbe, die nicht kostendeckend auszuliefern und wegen des Zeitdrucks schwer zu bündeln waren usw. usf.
Alles daran ist richtig, und wer eine hübsch komplette Zusammenfassung von Aufstieg und Fall der einstigen Investor:innenlieblinge lesen will, dem sei der Text dazu aus der „Zeit“ (Abo-Text) empfohlen.
War’s das jetzt?
War’s das jetzt – zumal mancher Experte auch schon den verbleibenden Wettbewerber Flink mitabräumt? Wie immer lohnt es sich, beim Blick in die Zukunft zu differenzieren.
Fakt ist, dass Getir sich in seinen Heimatmarkt zurückzieht, weil es einer der Hauptinvestoren wohl so wollte: der Abu-Dhabi-Staatsfonds Mubadala Capital. Dieser ist auch am Wettbewerber Flink beteiligt. Zwischendurch hieß es, in Abu Dhabi habe man eine Fusion der beiden Dienste befürwortet. Zu der ist es bekanntermaßen aber nicht gekommen, zumal auch bei diesem Plan die Wahrscheinlichkeit groß gewesen wäre, dass Flink als europäischer Anbieter bestehen bleibt und Getir sich auf die Türkei konzentriert.
Zuletzt hatte Flink im April frisches Geld von Investor:innen bekommen, um weiter in Richtung Profitabilität zu radeln (laut Medienberichten aber nicht von Mubadala).
Ob Flink die Zweifler:innen tatsächlich widerlegen kann, ist unklar, und dürfte davon abhängen, wie (bzw. mit welchen Partnern) sich der Dienst nun strategisch positioniert.
Zu lange auf Wachstum fixiert
Hauptproblem des Quick Commerce war in der Vergangenheit, dass zu lange zu viel Kapital eingesetzt wurde, um möglichst schell zu wachsen und sich vor der stetig nachrückenden Konkurrenz zu positionieren. Das führte u.a. dazu, dass die Dienste extrem hohe Kund:innenakquisekosten hinzunehmen bereit waren: Von einem ehemaligen Getir-Mitarbeiter ließ sich „Sifted“ berichten, man habe sich lange ausschließlich auf Wachstum fixiert – ohne genauer zu betrachten, was genau ausgegeben wurde, um neue Kund:innen zu Bestellungen zu bewegen:
„[T]his led to a culture of celebrating user growth, without keeping an eye on the cash burn that came with acquiring those users via expensive promotions.“
70 bis 100 Euro müssten pro Neukund:in in der Akquise veranschlagt werden. Dieses Geld lässt sich sparen, wenn die Quick-Commerce-Anbieter ihre Kundschaft über Plattformen erreichen, die bereits über eine große Zahl an Nutzer:innen verfügen: Lieferdienste wie Uber Eats, Wolt, Lieferando.
Genau das haben Flink und Getir/Gorillas erkannt und sind bzw. waren spätestens seit Beginn dieses Jahres auf allen Plattformen der genannten Anbieter verfügbar (siehe Supermarktblog). Möglicherweise reicht dieser Schritt aber nicht, um tatsächlich profitabel zu werden.
Hallo, „Premium Convenience“?
Es gibt aber durchaus Vorbilder, an deren Modell sich auch Flink orientieren könnte: z.B. Zapp in Großbritannien.
Dort hat man nicht nur die Expansion in andere europäische Länder (Frankreich, Niederlande) gestoppt, sondern sich mit dem Dienst auch aus Städten wie Cambridge, Manchester und Bristol zurückgezogen, um sich komplett darauf konzentrieren, den Service in London profitabel zu machen. Das ist nach eigenen Angaben gelungen – und zwar laut Steve O’Hear, dem Senior Vice President of Strategy bei Zapp, auch deshalb, weil man sich von Promotions fast vollständig verabschiedet habe.
Dazu kommt, dass Zapp nicht mehr nur (wie früher) „Groceries in Minutes“ ausliefert, sondern Produkte aus zahlreichen Kategorien, jetzt auch Kosmetik, Elektronikartikel, Spirituosen, Blumen und Geschenkartikel via „Zapp Boutique“ und „The Gift Shop“:
Zapp is the UK capital’s leading premium convenience delivery app, elevating the everyday life of hundreds of thousands of Londoners. We leverage cutting edge technology to predict what customers want – to always have the most relevant products available, at the right location, at the right time.“
Nur Lebensmittel – das wird schwer
Es gehe darum, Kund:innen zu gewinnen, denen Bequemlichkeit wichtiger sei als der Preis der Artikel, die sie bestellen – um „premium convenience“.
Und so gewagt das klingt: Vielleicht ist genau das der Schlüssel zum Erfolg für den Quick Commerce. Dass eine Zielgruppe dafür existiert, manifestiert sich auch in den voranschreitenden Ambitionen der Plattformanbieter, immer neue Lieferangebote aufzuschalten.
Wie Kioske, Spätis und Supermärkte eine friedliche Koexistenz miteinander führen, könnte das ja auch mit Supermärkten, klassischen Lieferdiensten für Wocheneinkäufer:innen und Quick-Commerce-Angeboten möglich sein, wenn die eine Stammkundschaft pflegen, die gerne bereit ist, fürs Nichtanstehen im Supermarkt und die Direktlieferung an die Haustür Aufpreise zu zahlen. Das aber bedeutet nichts Geringeres als eine Komplettabkehr von bisherigen Gepflogenheiten der Branche, zumal dadurch ein Teil der verbliebenen Kundschaft vergrault werden dürfte.
Und selbst wenn das erfolgreich wäre: Dass sich damit auch die Existenz reiner Lebensmittel-Lieferanten absichern lässt, wird zunehmend unwahrscheinlicher.
Viele harte Einschnitte
Mal angenommen, Flink würde dem Zapp-Modell folgen – dann wären zunächst weitere harte Einschnitte notwendig:
- ein Fokus auf eine oder wenige große Städte in Deutschland – und das Ende des Diensts in vielen kleineren, die bislang noch beliefert werden (von Aachen über Oldenburg bis Wiesbaden);
- der Verzicht auf den warmen Rabattregen, mit dem Kund:innen bislang noch Woche für Woche per Mail beglückt werden („Es wartet ein 8€-Gutschein auf dich im Checkout“);
- der endgültige Abschied von der Zusage, die bestellten Artikel „zu Supermarktpreisen!“ zu erhalten, wie es Rivale Gorillas noch im Februar zu adaptieren versuchte (nachdem Flink den Rewe-Lieferservice-Preisvergleich vorgemacht hatte);
- und letztlich eine Neupositionierung mit einem breiteren Warensortiment sowie umfassender Präsenz auf den Plattformen Dritter, die gleichermaßen Konkurrent und Kooperationspartner wären.
Möglich ist auch, dass einer der Plattformanbieter Flink komplett übernimmt und integriert (was wohl eine Auflösung der separaten Fahrer:innenflotte zur Folge hätte); mit der Lieferando-Mutter Just Eat Takeaway, die mit „Lieferando Express“ erste eigene Erfahrungen im Quick Commerce sammeln konnte, soll es Gespräche gegeben haben.
Keine Zeit für Wunder mehr
Die einst groß gedachte Vision von der (Lebensmittel-)Sofortlieferung wird – wenn überhaupt – in Zukunft aber wohl vor allem dann funktionieren, wenn sie erstmal so pragmatisch gedacht wird, wie es vermutlich von vornherein ratsam gewesen wäre.
Man darf die Hoffnung ja nie aufgeben, hatte sich auch Gorillas vor wenigen Wochen noch gedacht, und eine vorösterliche Reaktivierungsmail an Kund:innen geschickt, deren Bestellleidenschaft zwischenzeitlich eingeschlafen war:
Jesus kam wieder. Du auch? [W]enn es eine Zeit für Wunder gibt, dann jetzt, oder?“
Aber vielleicht einigen wir uns zumindest darauf: Die Zeit für Wunder ist – zumindest im europäischen Quick Commerce – ein für allemal vorbei.
- Rückzug aus Deutschland: Getir und Gorillas liefern bald nicht mehr
- Wagt Edeka mit „Edeka Now“ doch noch einen Anlauf im Quick Commerce?
- Neustart in Berlin: Wolt Market kehrt nach Deutschland zurück
- Uber Eats ermöglicht Quick-Commerce-Flatrate für Getir und Flink
- Alle Supermarktblog-Texte zum Quick Commerce
kann mich noch erinnern, dass ein Manager eines Quick Lieferdienstes vor ca. 2 Jahren zu mir sagte:
Bald werden uns die Hersteller von Lebensmitteln dafür gut bezahlen, dass wir sie in unserem Sortiment führen. Wir haben ein solch gutes Image und sind so angesagt, dass die Hersteller uns bezahlen, damit diese Eigenschaften von Kunden auf die Produkte übertragen werden
vielleicht war es doch gar nicht so ein dummer Move, als Kaufland seinem Lieferdienst schon kurz nach dem Start den Stecker gezogen hat.
Das eine hat wirklich sensationell gar nichts mit dem anderen zu tun.
@Peer Schader: … abgesehen von der Tatsache, dass man sich in Neckarsulm früher als andere vom Geldverbrennen verabschiedet hat.
Zum Geld verbrennen: Nochmal nachschlagen was das Kaufland Australien-Abenteuer und die Lidl-USA-Eroberung gekostet haben vielleicht?
Das eine hat wirklich sensationell gar nichts mit dem anderen zu tun.
… abgesehen von der Tatsache, dass man in Neckarsulm nicht annähernd so rational investiert wie Sie suggerieren.
bei Lidl wurde das WLAN auch abgeändert. In der Filiale in Berlin Springpfuhl heißt es LidlPlusWlan. Also künftig nur noch für Mitglieder
„Ist der Quick Commerce noch zu retten?“ Nö. Feuchte Gründerträume und zuviel Geld, das nicht wusste wohin es sonst investiert werden sollte. War bestimmt eine schöne Zeit, aber man muss nicht alles in Frage stellen was schon da ist und nur den neuen „heissen Scheiss“ für zukunftsfähig erklären. Wo kann ich mich als Prophet bewerben ? 🙂
So könnte einer der lustigen Einkäufer klingen, die im Discount abgeworben wurden. Selbst in der Industrie wurden wir von den hippen jungen Headhuntern mit Abwerbeversuchen bombardiert. Der Goldrausch in Alaska war nichts gegen diese ungebremste Euphorie 🙂